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Art & Anthropology nutzt ethnographische Methoden, um Bilder des Anderen aufzuspüren: Sprachenvielfalt und unterschiedliche Perspektiven, Eigenes und Fremdes prägen den vielstimmigen Dialog der Ausstellung. Gemeinsam aktualisieren die Beteiligten den Ethnographic Turn in der Kunst. Sie befragen Identitäten, Formen des Zusammenlebens und Sehnsüchte heute. Die Werke sind dabei von der Auseinandersetzung mit der europäischen Kolonialherrschaft und ihren bis heute spürbaren Folgen sowie durch die aktuellen Verschiebungen im Spätkapitalismus geleitet. Gemeinsam stellen sich die Künstler*innen und Kuratorinnen die Frage: Wie lassen sich mit den Mitteln der Kunst alternative Wege des Denkens und Handelns in der Nach-Globalisierung entwickeln? Anschließend an die Writing-Culture-Debatte, die Mitte der 1980er-Jahre die postkoloniale Ethnologie nachhaltig bewegte, möchte das Projekt einen poetischen Möglichkeitsraum für die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen auf Augenhöhe eröffnen. Die künstlerischen Feldforschungen führen in so unterschiedliche Kontexte wie Argentinien, Brasilien, Deutschland, Namibia, Mexiko oder die Türkei. Gemeinsam fordern die Arbeiten klassische Vorstellungen von kolonialen Expeditionen heraus und erschaffen häufig neue kollaborativ inspirierte Formen. Die Medien reichen von Installation, Film, Fotografie bis hin zu Objets Trouvés.

Das Projekt findet mit freundlicher Unterstützung der Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Ausstellungsfonds Kommunale Galerien statt und wird vom Finnland-Institut in Deutschland gefördert.

Künstlerische Arbeiten: Die Installation one beginning, three stages and many endings (2009/16) basiert auf persönlichen Materialien wie Videos, Filmen und eigenen Aufzeichnungen eines Ayahuasca Ritual aus dem Amazonas, das die Künstlerin Antje Engelmann 2009 mit einem Arzt und Schamanen in Südamerika durchgeführt hat. Engelmann versucht in einem autoethnographischen Verfahren, inspiriert von der amerikanischen Soziologin Carolyn Ellis, nicht die Anwendung und Auswirkungen bei den indigenen Gruppen zu verstehen oder zu umschreiben, sondern die Künstlerin befasst sich – ausgehend von ihrer eigenen halluzinogenen Erfahrung – mit der Anwendung und Aneignung des Ayahuasca Tees im globalisierten, westlichen und wissenschaftlichen Kontext.

Das Video Contaminated Home (2014) von Nina Fischer & Maroan el Sani zeigt Privataufnahmen einer Familie aus der Präfektur Fukushima in Japan, die ihr nur 23 km vom havarierten Atomkraftwerk entfernt liegendes Haus in den ersten Tagen nach dem Erdbeben verließ und nach Kyoto zog. Regelmäßig fahren die ehemaligen Bewohner*innen seit ihrer Flucht im März 2011 einmal im Monat für einige Tage zurück, messen die Strahlung und vergleichen sie mit den offiziellen Werten. Das Video verwendet im Sinne der Ethnographie Methoden der Selbstdokumentation der Protagonisten und zeigt die Schwierigkeit, sein Zuhause nach den Vorkommnissen in Fukushima loszulassen.

In seiner Arbeit Where are the arrows? (2013) setzt sich der in Paris geborene Künstler Olivier Guesselé-Garai mit seiner Familiengeschichte und der Kreolisierung („Vermischung“) der Kulturen auseinander. Der Großvater des Künstlers war Bogenmacher, Holzschnitzer und animistischer Heiler in Kamerun. In der plastischen Arbeit aus Holz verbindet Guesselé-Garai dieses nicht-europäische Familienerbe mit Fragen nach der westlichen Kultur. Der Holzbogen nimmt gleichermaßen Bezug auf die Tätigkeit seines Großvaters und seiner eigenen künstlerischen Praxis als Maler auf. Denn dieses Objekt verbindet Teile eines modernistischen Bildes, wie den Bogen als Holzrahmen und die gespannte Sehne, als Träger für die Ölfarbe eines abstrakten Bildes.   

Im Rahmen eines DAAD-Aufenthaltes entdeckte Susan Hiller Straßenschilder in Deutschland, auf denen das Wort „Jude“ zu lesen ist. Die als Anthropologin ausgebildete Künstlerin begab sich mit The J-Street Project auf eine Recherchereise und erstellte mit ihren Fotografien eine mahnende Erinnerungsarbeit, die dazu aufruft, das unfassbare Verbrechen und die Ausgrenzung der Juden nicht zu vergessen, sondern sich für Humanität und Vielfalt einzusetzen.

Für Chaguar Bilder kooperierte Olaf Holzapfel mit den Wichi-Frauen in Nordargentinien und Bolivien. Seine Motive setzten sie in ihre eigene abstrakte Bildsprache um. Vergleichbar mit Ausdrucksformen des Bauhauses nimmt ihr Repertoire direkte Beobachtungen aus der Natur wie einen Berg, Tierpfade oder die Flügel eines Vogels in Knüpfmuster auf. So vereinen die 20 entstandenen Textilbilder nomadische Kulturtechniken mit westlichen Abstraktionskonzepten und sprechen von dieser Zusammenarbeit. Im Rahmen eines fortlaufenden Forschungsprojekts besuchte Riikka Kuoppala den Geburtsort ihrer Mutter in Namibia und untersuchte anhand der Spuren ihrer dort verstorbenen Großmutter sowohl ihre eigene Familienerzählung als auch die politische Geschichte des südwestafrikanischen Landes in Hinblick auf 140 Jahre finnische Missionsarbeit.

Cyrill Lachauer hinterfragt kritisch kulturelle Vorstellungen, die von traditionell vorgeformten Bildideen geprägt sind. Welche inneren Landschaftsmodelle und Mythen-Kataloge aktivieren wir, wenn wir beispielsweise durch die Weiten Nordamerikas wandern? Die 13-teilige s/w-Fotoserie WASH-Arizona, New Mexico (2015) geht dieser Frage nach. Sie ist während eines Aufenthaltes des Künstlers dort entstanden. Zur Arbeit gehört ein Stuhl auf dem der Betrachter vor den Fotoarbeiten ausruhen und den Song Here come the Anthros hören und in einem Buch blättern kann. Lachauer setzt sich in dieser Arbeit mit dem bildgewaltigen Atlas-Werk des Kunsthistorikers Aby Warburg (1866-1929) auseinander, der wie kein anderer Medienwissenschaftler unsere Bildwelten katalogisiert und kanonisiert hat.

Die Soundarbeit Ghosttrap (2007-2015) von Nadia Lichtig besteht aus Interviews, die sie mit unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen über ihre Ängste geführt hat. Die daraus entstandenen Texte bilden die Basis ihrer Soundarbeit, für die sie die Gespräche umgewandelt und nachgesprochen bzw. gesungen hat. Die sprachlichen Eigenheiten der Aussagenden hat sie dabei beibehalten, verschiedene Sprachrhythmen und Melodien folgen einander, überlagern und verweben sich.   

Die mehrteilige Arbeit I go get the Good Things (2011-2015) von Antje Majewski nimmt inhaltlich Bezug auf den visionären Science-Fiction-Text Picknick am Wegesrand (1971) des russischen Schriftsteller-Brüderpaares Arkadi und Boris Strugatzki. Darin werden auf der Erde Artefakte einer außerirdischen Existenz gefunden, über die kein Wissen existiert. Den setzt Majewski in Zusammenhang mit von ihr abgebildeten rituellen Gegenständen, wie einem Yupini (einer Strohfigur) und einem heiligen Stein, die für Fertilitätsrituale der Enga aus Papua Neu Guinea benutzt wurden. Der Künstlerin ist es wichtig diese zeremoniellen Gegenstände, die in unterschiedlichen Museen in Deutschland aufbewahrt werden, in ihrer Arbeit wieder zu vereinen.

Maix Mayer untersucht erzählerische Modelle von Fiktion und Realität. Die Video-Arbeit African Tales veejaying Ein Schneeman für Afrika (2013, 88:26 min) und die ausgestellte Fotografie seiner Dokumentation einer Performance (2013) zu diesem Thema sind Teile seiner zweiten künstlerischen Recherche, die in Tansania spielt. Dort hat er nach kulturellen Widerstandsmodellen gegen das eigene Afrikabild gesucht. Das Video zeigt eine Filmvorstellung in einem kleinen Kino in den Außenbezirken der Hauptstadt Dar es Salaam. Es geht um das Veejaying des Film- und Kinoerzählers Captain Mukandala alias Lufufu, der in einem Anbau seines Wohnhauses ein Videokino betreibt. Diese Kinoerzähler (Laienübersetzer) ermöglichen es, die Vielfalt der lokalen Sprachen abzudecken. Die Übersetzer erzählen die Geschichten der Filme vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenswelt und transformieren damit die fremden globalen Produkte in einen lokalen Kontext. Sie sind dabei gleichzeitig Erzähler, Kommentator, Erklärer, Sprechstimmendarsteller, Übersetzer, Entertainer und Vertreter des Publikums.

Die Arbeiten in der Fotoinstallation Das Licht schien in die Dunkelheit und die Dunkelheit merkte es nicht (2013) des mexikanischen Künstlers Gabriel Rossell Santillán dokumentiert seine Reise 2012 zu der indigenen Gemeinde der Wirráritari in Santa Catarina im Nordosten Mexikos. Bereits 2005 hatte der Künstler den Besuch von Vertretern der Wirráritari Santa Catarinas im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem organisiert. Dort erstellte er Aufnahmen von Zeremonialobjekten, die der Ethnologe Konrad Theodor Preuss von 1905 bis 1908 nach Berlin gebracht hatte. Seine Aufnahmen davon brachte der Künstler wiederum zurück nach Santa Catarina. Die Gemeinde hatte zum Teil ihr Wissen darüber verloren. Die ausgestellten Fotoarbeiten entstanden auf Wunsch der Freunde des Künstlers der Gemeinde Wirráritari, die ihn darum baten, Porträts von ihnen oder Fotos von Pflanzen, Wasserquellen, Bergen und Zeremonien – den grundlegenden Bildern ihres Bezugssystems – zu machen. Durch diesen Prozess entstand ein umfassendes Dokument, bestehend aus hunderten von Fotos. Der Erlös der Arbeiten dient u.a. dem Bau der Bibliothek, einer Baumschule für lokale Eichen und einem Hirschgehege.

Während seines Stipendiums 2013 am Künstlerhaus Bethanien in Berlin entwickelte der südafrikanische Künstler Thabiso Sekgala (1981-2014) eine Fotoserie mit dem Titel Paradise, für die er in Berlin und Istanbul Aufnahmen machte. Darin setzte er sich mit den unsichtbaren, kulturellen Grenzen sowohl der Städte als auch der Vorstellungen von Afrika und Europa auseinander. Er porträtierte beispielsweise Frauen in türkischen Cafés, die er bat, mit ihm dort hinein zu gehen. Ihr Unbehagen ist ihnen anzusehen, da ausschließlich Männer ihre Zeit dort verbringen, es aber kein Gesetz gibt, das Frauen den Eintritt verweigern würde.

Die Installation Olacak! (Türkisch für „es wird geschehen“) von Mathilde ter Heijne involvierte 75 Produzentinnen eines kunsthandwerklichen Marktes im Istanbuler Stadtteil Kartal. Dabei nähten sie nicht nur eine Textil-Schlange, sondern verständigten sich auch über ihre Arbeitssituation, ihre private Lage und die Bedeutung ihrer Markttätigkeit. Bei einer gemeinsamen Aktion trugen sie die kollaborativ hergestellte Schlange durch die Haupteinkaufsstraße in Beyoglu, verteilten Handouts und warben für den Markt, der ausschließlich Frauen eine Verkaufsplattform bietet.  

Künstler*innen:

Antje Engelmann, Nina Fischer & Maroan el Sani, Olivier Guesselé-Garai, Susan Hiller, Olaf Holzapfel, Riikka Kuoppala, Cyrill Lachauer, Nadia Lichtig, Antje Majewski, Maix Mayer, Gabriel Rossell-Santillán, Thabiso Sekgala, Mathilde ter Heijne Kuratiert von Heike Fuhlbrügge und Christine Nippe