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Eröffnung: 30.4.09, 19 Uhr

Wasserfälle sind Ereignisse, Spektakel mit ungebrochener Anziehungskraft. Ihre Faszination besteht in der Gewalt der nicht nachlassenden Wassermassen, dem tosenden Lärm und dem feinen Sprühnebel, der das Sonnenlicht in leuchtende Spektralfarben bricht. Als Sehnsuchtsmotiv sind sie beliebtes Objekt von Postkarten und Reisefotografien, aber auch Vorbild für Nachahmungen in Parks, Gärten und öffentlichen Räumen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhielt etwa der Viktoriapark in Berlin-Kreuzberg einen 24 Meter hohen Wasserfall, eine vergrößerte Kopie des eine Tagesreise entfernten Heynfalls im Riesengebirge. Auch in der bildenden Kunst ist der Wasserfall Motiv, vor allem aber Imaginationsmaterial, das angeeignet, kopiert und verfremdet wird. Im vergangenen Jahr realisierte zum Beispiel Olafur Eliasson mit den „New York City Waterfalls“ ein Spektakel, das den Wasserfall als Ingenieursleistung und als Naturschauspiel zugleich aufführte.

Für den ehemaligen Wachturm im Schlesischen Busch Berlin adaptiert die Künstlerin Birgit Schlieps ebenfalls einen Wasserfall. Auf die Innenwände des Wachturms ist eine Ansicht der Niagarafälle in Form einer Fototapete angebracht. Grundlage bildet eine Fotografie, auf die Birgit Schlieps 1992 durch einen Zufall in New York stieß. Auf einem Flohmarkt fand sie ein Fotoalbum mit 31 Fotografien der Niagarafälle. Die Aufnahmen sind mit einer Balgenkamera gemacht und stammen von zwei Brüdern, die 1920 die berühmten Wasserfälle an der Grenze zwischen den USA und Kanada besuchten. Im Fotoalbum ist präzise verzeichnet, von welcher Seite aus die Fotos entstanden und welche Teile der Wasserfälle jeweils zu sehen sind. Das Motiv im Wachturm ist eine Gesamtansicht, das sowohl die (amerikanischen) Niagarafälle als auch die (kanadischen) Horseshoe Falls zeigt. Es wurde von der „International Suspension Bridge“ aus aufgenommen, einem gewissermaßen idealen Standpunkt, auf der Grenze bzw. im Niemandsland zwischen den beiden Staaten.

Das Motiv ist grob gerastert und zerstiebt in eine Vielzahl von einzelnen Punkten, ähnlich dem Sprühnebel, den ein Wasserfall erzeugt. Erst mit einigem Abstand setzt es sich zu einem Bild zusammen, wobei durch die räumliche Enge im Wachturm der Illusionismus teilweise wieder aufgelöst wird und die Aufmerksamkeit zum Atmosphärischen des Naturereignisses und gleichzeitig zur technischen Beschaffenheit des Bildes und damit auf die Frage der Wahrnehmung gelenkt wird.

Birgit Schlieps' Interesse gilt diesem Dritten, das in der Wahrnehmung entsteht und das sie, in Anlehnung an ein Zitat von Martin Kippenberger als „tranceartige Topologie“ bezeichnet. Kippenberger beschreibt die Naturwahrnehmung auf der Basis der physischen Verfasstheit in seinem Text „1984. Wie es wirklich war am Beispiel Knokke“ mit folgenden Worten: „Ich blinzele in den Himmel. Wenn man direkt in die Sonne schaut und anschließend die Augen zukneift, leuchtet es orangerosa mit zwei blaugrünen Kreisen auf. Ich liebe das und blinzele in den Himmel. Psychedelic auf Sparflamme, aber gut.“ Unter „Topologie“ versteht Birgit Schlieps konkrete räumliche Lagebeziehungen, die in der Imagination zum Bestandteil verschiedener Orte und Wirklichkeiten werden können. So wird der Wasserfall im Wachturm zu einem imaginierten Ereignis, das die verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen miteinander verschmilzt: Ontario/Upstate New York 1920, wo die Aufnahme entstand, New York W 25th St/Ave of the Americas/Fith Ave 1992, wo sie auf das Fotoalbum stieß und schließlich der gegenwärtige Ort und Zeitpunkt: Berlin, Schlesischer Busch, 2009.

Außen am Wachturm installiert Schlieps ein Holzgerüst, wie man es vom Kulissenbau kennt und welches die Vorstellung von der Stabilität und Dauerhaftigkeit des Gebäudes unterminiert. Der bildhauerische Eingriff lässt den Wachturm als temporäre Konstruktion einer Wirklichkeit erscheinen, die jederzeit demontierbar ist.

Auch die politische Grenze ist ein imaginierter, ein abstrakter Ort, der erst in der Überlagerung verschiedener räumlicher und zeitlicher Ereignisse entsteht. Indem Birgit Schlieps auf die Physis des Wachturms das Bild eines grenzüberschreitenden Wasserfalls projiziert, wird auch dieser Prozess sichtbar.

Seit fünf Jahren finden im Grenzwachturm Schlesischer Busch unter dem Titel „Letzte Überprüfung“ Ausstellungen, ortsspezifische Installationen und Interventionen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler statt, kuratiert von Svenja Moor. An die Ausstellung „Niagara Falls“ von Birgit Schlieps schließt im Juni das Projekt „10 Steps“ der polnisch-kanadischen Künstlerin Kinga Araya an. Im August/September wird der Berliner Künstler Sven Johne die Videoarbeit „1989“ präsentieren, kuratiert von Christine Heidemann und Anne Kersten. Der Wachturm ist von Mai bis September 2009, immer donnerstag bis sonntags, 14 bis 19 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Vor Ort ist eine mehrsprachige Dokumentation zur Geschichte der Führungsstelle erhältlich.

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LETZTE ÜBERPRÜFUNG 5/09
Birgit Schlieps: Niagara Falls