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Boris Mikhailov entwickelt seit den 1960er Jahren ein vielfältiges, fotografisches Werk, das konzeptuelle und dokumentarische Strategien vereint. Das alltägliche Leben unter verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen steht dabei im Zentrum seines Interesses. Jüngst mit dem Goslarer Kaiserring ausgezeichnet, zählt er zu den bedeutendsten Fotografen der Gegenwart. Die Barbara Gross Galerie stellte seit 1998 viele seiner großen Werkserien aus, wie By the Ground, 1991, Case History, 1997-1998 und Superimpositions, 1960-70. Die Ausstellung Profiles and… präsentiert nun drei neue Porträtserien, in denen sich Geschichte und Gegenwart überlagern.

Die Serie German Portraits, 2008, zeigt Profilfotografien von Laiendarstellern verschiedenen Alters und Geschlechts, welche die Theaterregisseurin Claudia Bosse für eine Inszenierung des Stückes Die Perser von Aischylos in Braunschweig für den Chor engagiert hat. Mit seinen insgesamt 300 Porträts der Studentinnen, Rentner und Angestellten, von denen wir hier eine Auswahl zeigen, gibt Mikhailov der deutschen Mittelschicht ein Gesicht. Mit der Wahl der strengen Profilansicht knüpft er an die bild-historische Tradition dieser Darstellungsform an, wie etwa an die Porträts der Renaissance von Hans Holbein oder Sandro Botticelli. Zugleich spielt Mikhailov in der Serie bewusst mit Bezügen zur Physiognomik, die im 19. und 20. Jahrhundert als wissenschaftlicher Unterbau für Rassismus und Eugenik herangezogen wurde.

In der Ausstellung treffen die German Portraits auf die sechs Jahre später spontan entstandene Gruppe der Jewish Portraits, 2015, die männliche Besucher einer Synagoge in Kiew vor einem schwarzen Vorhang posierend zeigt. Traditionelle jüdische Kleidung lässt einige der Porträts fast zeitlos erscheinen, andere sind, erkennbar an Einkauftstaschen, modischen Frisuren oder Kopfhörern, eindeutig der Gegenwart zuzuordnen. Während die German Portraits sich gerahmt zu einer klassischen Porträtgalerie fügen, werden die Jewish Portraits in Abzügen unterschiedlichen Formats ungerahmt präsentiert, der unfertige, improvisierte Charakter der Aufnahmen somit betont.

Mit der Serie When my Mama was young, 2011-2012, wirft Mikhailov einen Blick zurück auf die sowjetische Gesellschaft der 50er Jahre und stellt dabei die Frage, ob es einem Fotografen möglich ist, das Vergangene zu fotografieren. Der Künstler, der als Chronist des sowjetischen und postsowjetischen Lebens seit den 1960er Jahren gilt, unternimmt hier den Versuch, das Leben einer Zeit abzubilden, die, wie er sagt "wenige Fotos hinterlassen" hat. Dafür inszeniert er unter anderem Politiker, Geheimagenten und Wissenschaftler von heute als Persönlichkeiten der Breschnew-Ära. Die gezeigten Serien werfen grundlegende Fragen über das fotografische Porträt auf. Mikhailov geht es, wie in seinem gesamten Werk, darum, die Zeit in all ihrer Widersprüchlichkeit zu konservieren. Er weiß um die subjektive Rolle des Fotografen und den Konstruktionscharakter seines Werks, das über die reine Dokumentation weit hinausgeht.