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Die Zeit steht nicht mehr still (Paul Virilio)

Helikopter, Autobahnen mit und ohne Fahrzeuge, Großwindanlagen – die Künstlerin Christiane Baumgartner aus Leipzig beschreibt Landschaft so, wie sie sich dem mobilen Menschen aus dem Autofenster darbietet. Nicht ohne Grund stellt sie dabei Vehikel in das Zentrum ihrer Darstellung, deren einzige Daseinsberechtigung darin zu liegen scheint, dass sie sich bewegen. Sie sind für das Bewegen gemacht.

Als Medien für Ihre Betrachtungen zu Raum und Zeit wählt die Künstlerin mit Video und Holzschnitt Darstellungsweisen, die auf der Zeitleiste künstlerischer Methoden und Mittel scheinbar auf der entgegen gesetzten Seite liegen. Besucher der Ausstellung, die am Sonntag, 7. Mai um 11 Uhr im Kunstverein Ulm eröffnet wird, sollten sich auf allerhand „Bewegung“ gefasst machen. Denn das Bild, das sie letztendlich sehen, formiert sich erst im Auge des Betrachters und ist abhängig von seinem Standpunkt.

Videoaufnahmen der Künstlerin, die sie in der Landschaft von einem Fixpunkt aus oder sich selbst bewegend, aufgenommen hat, bilden die Basis ihrer durch ihre Größe und handwerkliche Raffinesse auffallenden Holzschnitte. Einzelaufnahmen der Videos werden nach ihrer Auswahl am PC bearbeitet und in ein Liniensystem überführt, das dann in einem langsamen Prozess mit der Hand in das Holz eingeschnitten wird. Christiane Baumgartner arbeitet in konzeptueller Strenge in der Serie. Fahrt II ist so eine Serie, eine achtteilige Folge von Holzschnitten, die neben einander gehängt, eine Wand von bald 20 Metern füllt. Dunklere und hellere Partien bilden beinahe malerische Strukturen. Wie Schemen erheben sich in diesem Fond weißliche Gebilde, deren „Natur“ sich erst im langsamen Vergleich der Einzelbilder enträtselt: jedes Bild friert sozusagen einen anderen Aspekt ein. Die Gesamtschau erscheint dann wie ein überdimensionales „Daumenkino“. Das scheinbar Statische erweist sich als überaus dynamisch. Das unbewegte Bild transportiert dennoch die Spur der Bewegung. Neben diesen über das Medium Video der Landschaft abgerungenen Holzschnitten stehen ihre Videoarbeiten als eigenständige künstlerische Werke. In ihnen ist das Moment der Bewegung zwangsläufig spürbarer und sie bilden durch ihre Farben der aufgenommenen Landschaften einen reizvollen Kontrast zu den zwischen schwarz und weiß oszillierenden Holzschnitten.

„Die Entdeckung der Langsamkeit“ . Dieser Titel eines Buches von Sten Nadolny ist zu einem geflügelten Wort für den weit verbreiteten Wunsch nach Entschleunigung geworden. Aber der Wunsch, die Zeit möge stillstehen, ist nicht erst im 20. Jahrhundert aufgekommen. Schon bei Goethe heißt es im 2.Teil des „Faust“ im 5. Akt: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!“. Und lesen wir die Prosa der Zeitungsbeilagen über weit entfernte, exotische Reiseziele, so wird darin häufig der Luxus von Stille und geringer Umtriebigkeit mit der Metapher vom Stillstehen der Zeit beschrieben. Neben Paul Virilio hat sich der französische Ethnologe und Philosoph Georges Balandier mit dem Phänomen der Beschleunigung in der Moderne auseinandergesetzt. „Die Moderne ist Bewegung“, schreibt er in seinem im September 2005 erschienenen Werk „Die große Krise/Le grand dérangement“. Die Rahmenbedingungen des täglichen Lebens hätten sich verwischt oder erschienen unpräzise. Seine Erscheinungen zeigten sich in einer relativen Klarheit und blieben doch undurchsichtig oder zumindest rätselhaft. Relativ klar und rätselhaft, beides trifft auch auf die Werke Christiane Baumgartners zu, abhängig von der Herangehensweise des Betrachters. Die Ateliers der Künstler seien zu Baustellen der gründlichen Wahrnehmung geworden, meint Paul Virilio. In dem Augenblick, wo die Kunstwerke ins Museum wandern, höre die Qualität der Werke als „Seismografen“ dieser Entwicklung auf. Es wäre zu wünschen, dass das Hereinholen der Holzschnitte und Videos von Christiane Baumgartner in die Ausstellungshalle des Kunstvereins Ulm im ersten Stock des Schuhhauses diese eine Zeitlang zu einem Laboratorium der umfassenden Wahrnehmung machen.

Zur Ausstellungseröffnung spricht Ralf Gottschlich aus Reutlingen. Es erscheint ein achtseitiges Faltblatt mit einem Text von Dr. Jeannette Stoschek, Leipzig.

Pressetext

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Christiane Baumgartner
Die Divergenz von Geschwindigkeit und Stillstand
Holzschnitt und Video