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Ausstellung Chto Delat? Perestroika. Twenty years after: 2011-1991 27. 8 - 18. 9. 2011 Eröffnung: Fr 26.8.2011, 19 Uhr Es sprechen Dr. Wolfgang Strobel, Vorstandsvorsitzender des Kölnischen Kunstvereins, Kathrin Jentjens und Anja Nathan-Dorn, Direktorinnen des Kölnischen Kunstvereins und Anastasia Marukhina, Kuratorin der Ausstellung und Teilnehmerin des Robert Bosch Stiftungsprogramms „Kulturmanager aus Mittel- und Osteuropa“

Das russische Künstlerkollektiv Chto Delat? wurde 2003 von Künstlern, Kunstkritikern, Philosophen und Autoren aus Sankt Petersburg und Moskau gegründet. In ihren vielfältigen Aktivitäten verbinden sie politische Theorie, Kunst und Aktivismus. Das emanzipatorische Potential des Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes sowie die Rolle der Kultur in diesen Prozessen sind Themen, mit denen sich die Mitglieder der Gruppe sowohl gedanklich als auch in ihren Aktionen auseinandersetzen. Der Name Chto Delat? bedeutet übersetzt ‚Was ist zu tun?’ und ist dem Titel eines Romans von Nikolay Chernyshevsky aus den 1860er Jahren entliehen, in dem der Autor einen minutiösen Plan für den Aufbau einer sozialistischen Arbeiterorganisation entwirft. Vladimir Lenin übernahm den Namen später für sein politisches Konzept. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit der Gruppe ist die Reflexion über die Form des Künstlerkollektivs und dessen Bedeutung in der Vergangenheit und der Gegenwart und über den Einfluss, den Kollektivität auf die Produktion und Rezeption von Kunst hat.

Die Ausstellung Perestroika. Twenty years after: 2011-1991 reflektiert die Entwicklung der Gesellschaft und der Wirtschaft in Russland nach der Perestroika 1991, als die Soviet Union aufgelöst und die Russische Föderation gegründet wurde. Die Ausstellung wird von den zwei Videoarbeiten Tower Songspiel und Perestroika Songspiel, beide Teil der Songspiel-Trilogie, die 2008-2010 entstand, eingerahmt. Der Begriff „Songspiel“ bezieht sich auf das epische Theater von Bertolt Brecht und auf dessen Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt Weill, der das Format des Songspiels erfand. Ein Songspiel verbindet dramatische, erzählende und musikalische Elemente, um mittels des Entfremdungseffekts das Publikum zugleich zu unterhalten und zu erziehen, während der Chor die dramatische Handlung kommentiert. Auch in den Filmen von Chto Delat? übernimmt diese Rolle ein Chor.

Die Ausstellung ist wie ein umgekehrter historischer Countdown strukturiert und beginnt im Kino der Brücke mit dem Film Tower: A Songspiel (2010). Der Film gibt einen Einblick in die jüngste, öffentliche Diskussion um die Pläne des staatlich kontrollierten Energiekonzerns Gazprom für den Bau des Okhta Centers in der Altstadt von Sankt Petersburg. Der Bau des Hochhauses hätte die berühmte Stadtsilhouette der historischen Altstadt, die auch UNESCO Kulturerbe ist, zerstört. Das Okhta Center sollte ein Symbol für das neue moderne Russland werden, doch im Video von Chto Delat? ist der Turm nur ein Zeichen für den alles verschlingenden Kapitalismus und die wachsende Lücke zwischen den Machthabern und den normalen Bürgern. Der Film ist eine Parodie einer Vorstandssitzung, wechselt aber vom Satirischen ins Tragische, als am Ende alle Darsteller plötzlich stillstehen und von einem unförmigen roten Kabel, das aus dem Telefon des Vorstandes herauswächst, eingewickelt, unfähig sind, sich zu bewegen.

Betritt der Besucher den Ausstellungsraum, wird er zunächst von einer Installation aus Texttafeln und Plakatwänden, Videoarbeiten und aus Holztafeln geschnittenen Skulpturen umgeben. Die hölzernen Silhouetten stellen auf den ersten Blick Figuren aus russischen Märchen und historische nationale Symbolcharaktere dar. In ihre jeweiligen grotesken Gegenteile verkehrt, werden sie jedoch zu sarkastischen Allegorien sozialer und politischer Phänomene in Russland. Der Drache verwandelt sich hier in einen Erdölbohrturm, die schlaue Hütte der Hexe Baba Yaga wird zum Weißen Haus, das lichterloh brennt, und der zweiköpfige Adler hält in seinen Klauen einen Bürokraten. Im Video Music’s power (2000) fängt die Kamera eine kurze Straßenszene ein, in der Passanten sich um einen Straßenmusikanten scharen und einen Moment spontaner Gemeinsamkeit teilen. Next Station Belorusskaja (2003) zeigt Obdachlose, die versuchen, in der Moskauer U-Bahn einen Zufluchtsort zu finden. Die Videos Production Line (2003), The Builders (2005) und Angry Sandwich People or In a Praise of Dialectic (2006) stellen die Bedeutung von Arbeit sowie die Rolle und das Selbstverständnis der Arbeiterklasse in der sich stetig wandelnden russischen Gesellschaft in Frage. Im Video Protest Match. Kirov Stadium (2006) dokumentiert der Künstler Dmitry Vilensky das Treffen von Aktivisten des Russian Social Forums, das sich als Protestbewegung gegen den G8 Gipfel in Sankt Petersburg im Juli 2006 im Kirov Stadium formte.

Am Ende der Ausstellung werfen das Video Chronicles of Perestroika (2008) und der Video-Film Perestroika-Songspiel. The Victory over the Coup (2008) einen Blick zurück zu dem historischen Moment des Volksaufstandes und des triumphalen Sieges der demokratischen Bewegung über die konservative Gegenbewegung im August 1991. Beide Arbeiten bestehen aus Archivaufnahmen aus dem Petersburg Studio of Documentary Films und zeigen verschiedene Mitschnitte von Demonstrationen zur Zeit der Perestroika. Für Chronicles of Perestroika schnitt Vilensky das Material zu einer Art Stummfilm zusammen, der die Inspirationen der Menschen zum Zeitpunkt der historischen Transformation zeigt. Im Perestroika-Songspiel entwickelt Chto Delat? eine Typologie der Hauptakteure, die zur Perestroika die politische Bühne betraten: der Demokrat, der Geschäftsmann, der „revolutionäre Idealist“, der Nationalist und die Feministin. Der Film versucht nachzuvollziehen, was die jeweiligen Visionen der Akteure für die Weiterentwicklung des Landes sein könnten. Obwohl die Zeit der Perestroika voller Träume und Handlungen für eine neue Gesellschaft war, spricht der Chor in dem Film aus der heutigen Perspektive von einer Geschichte „der Hoffnungen, die sich nicht erfüllten.“

Das Projekt wird realisiert von Nikolay Oleinikov, Tsaplya (Olga Egorova), Glucklya (Natalia Pershina) und Dmitry Vilensky. Chto Delat? sind: Olga Egorova/Tsaplya (Künstlerin, Sankt Petersburg), Artiom Magun (Philosoph, Sankt Petersburg), Nikolai Oleinikov (Künstler, Moskau), Natalia Pershina/Glucklya (Künstler, Sankt Petersburg), Alexei Penzin (Philosoph, Moskau), David Riff (Kunstkritiker, Moskau), Alexander Skidan (Dichter, Kritiker, Sankt Petersburg), Kirill Shuvalov (Künstler, Sankt Petersburg), Oxana Timofeeva (Philosophin, Moskau) und Dmitry Vilensky (Künstler, Sankt Petersburg).

Das Kollektiv nahm bereits an Gruppenausstellungen in zahlreichen internationalen Institutionen wie dem New Museum, New York (2011), der 17. Biennale in Sydney (2010), bei Principio Potosí, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (2010), der Istanbul Biennale (2009) und dem NBK - Neuer Berliner Kunstverein, Berlin (2009) teil. Einzelausstellungen waren u.a. Study, Study and Act Again, Moderna galerija, Ljubjana (2011), Between Tragedy and Farce, SMART project space, Amsterdam (2011), The Urgent Need to Struggle, ICA, London (2010) und Chto Delat?, ar/ge kunst, Bolzano (2010). Im Oktober 2011 wird Chto Delat? in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zeigen.

KÜNSTLERGESPRÄCH Sa 27. August 2011, 16 Uhr Anastasia Marukhina und Heike Ander (GLASMOOG) im Gespräch mit Dmitry Vilensky und Olga Egorova/Tsaplya

GLASMOOG, Filzengraben 2, Köln, http://glasmoog.khm.de Im Anschluß wird die Ausstellung Museum Songspiel von Chto Delat? im GLASMOOG eröffnet. Die Chto Delat? Zeitung, die anlässlich der Ausstellung unter dem Titel Theatre of accomplices erscheint, wird in Kooperation mit GLASMOOG und mit der Unterstützung von Encuentro Internacional de Medellín (MDE11) produziert. Mitwirkende Autoren sind Luis Garcia, Mladen Dolar, Fernanda Carvajal, Keti Chukhrov, Katja Praznik, Ultra red; Online-Texte von general intellect.

Die Ausstellung ist eine Kooperation mit GLASMOOG an der Kunsthochschule für Medien Köln und wird unterstützt von der Robert Bosch Stiftung, der European Cultural Foundation, Filmclub 813 und Koellefolien.