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Im Zentrum der Ausstellung von Michael Clegg und Martin Guttmann steht eine neue Werkserie von acht großen Rauminstallationen, die den Besucher zur Interaktion auffordern. Die Arbeiten funktionieren wie Gesellschaftsspiele, die eine, zwei oder mehrere Personen spielen können. Sie fordern den unterschiedlichen intellektuellen und körperlichen Einsatz des Besuchers. Mal muss er sich wie in der Arbeit Gefangenendilemma auf theoretischer Ebene in die Position eines Gefangenen versetzen und sich entscheiden, ob er das Risiko eingeht, sich und seinen Mittäter beziehungsweise seinen Mitspieler zu decken oder alles zu gestehen. Dabei entsteht der Konflikt, dass der Besucher nicht weiß, wie sein Mittäter sich entscheidet. Deckt er sich und seinen Mitspieler und dieser verrät ihn, muss er selbst eine lange Strafe in Kauf nehmen. Gesteht er alles und sein Mittäter hält dicht, bekommt er zwar eine geringere Strafe, vertut jedoch seine Chance, als vermeintlich Unschuldiger freigesprochen zu werden. Daneben eröffnet das Spiel eine zweite moralische Ebene, in der sich der Besucher fragen muss, ob das Spielziel nur die Vermeidung der Bestrafung ist, oder ob es nicht auch um Tatreue und Strafakzeptanz geht.

In einer ganz anderen Art und Weise wird der Besucher in der Arbeit Kognitive Übung integriert. Hier sitzt er an einem Schlagzeug, umgeben von Maschinen, die auf unterschiedliche Weise Lärm machen. Er hat nun die Möglichkeit sich diesem Rhythmus anzupassen oder dagegen anzuspielen. Während der Besucher bei dieser Arbeit zum Musizieren aufgefordert wird, muss er in der Arbeit Fortlaufende Zeichnung malen und zeichnen. Für das Spiel werden fünf Mitspieler benötigt, die an einer fünfteiligen Säulentafel zeichnen. Jeder Mitspieler beginnt an der oberen Tafel zu zeichnen, dreht diese dann um eine Position weiter, so dass der nächste Teilnehmer an seinem Teil weiterzeichnen muss. Am Ende ergeben sich fünf verschiedene kollektiv bemalte Tafelbilder.

Während Gesellschaftsspiele darauf ausgelegt sind, sich mit den anderen Mitspielern zu messen, fehlt dieser Aspekt den Spielen von Clegg & Guttmann völlig. Es gibt bei ihnen weder einen Sieger noch einen Verlierer. Stattdessen ermöglichen sie eine Reflexion der eigenen Handlung, Wahrnehmung und Erkenntnisweise. Die Arbeiten funktionieren wie Übungen, um das eigene Denken und Handeln zu erkennen. Dies verdeutlichen auch die beiden im Titel genannten Philosophen und Physiker Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, die stellvertretend für zwei gegensätzliche Positionen der philosophischen Debatte des 19. Jahrhunderts stehen: Empirismus und Rationalismus. Der Empirismus vertritt die Ansicht, dass wahre Erkenntnis nur durch individuelle Erfahrung und Sinneseindrücke erfolgt, während der Rationalismus diese Erkenntnisse nur durch allgemeine und von der Vernunft abgeleitete Schlussfolgerungen akzeptiert. In den Spielen von Clegg und Guttmann kann der Besucher seine eigene Erkenntnisweise reflektieren. So ist er in der Arbeit Gefangenendilemma genötigt, eine Entscheidung eher nach rationalen Kriterien zu treffen, während ihn in der Arbeit Kognitive Übung eher musikalische Sinneseindrücke leiten. Doch ganz so didaktisch getrennt erfolgt unsere Erkenntnis eben doch nicht, sondern dem Besucher wird sein eigener kognitiver und emotionaler Anteil seiner Handlungen und Wahrnehmungen sichtbar.

Durch diese Erkenntnismöglichkeit funktionieren die Arbeiten wie Verhaltens- oder Erkenntnisporträts und stehen damit in einer langen Arbeitstradition von Clegg & Guttmann. Das Porträt einer oder mehrerer Personen ist das zentrale Thema der Künstler. Im Falle ihrer neuen Arbeiten geben sie den Betrachtern selbst die Möglichkeit, ein Porträt ihrerselbst aufzuzeigen. Diesmal jedoch nicht ein Porträt ihres Aussehens, sondern eben ein Porträt ihrer eigenen Erkenntnisweise. Dabei ergeben die Arbeiten Einzel- und Gruppenporträts, je nach dem, wie viele Mitspieler beteiligt sind. Über das Thema Porträt verbindet sich die neue Werkserie Mach vs. Boltzmann II mit zwei Auftragsarbeiten, die auch in der Ausstellung ausgestellt sind und an ihre früheren Arbeiten erinnern. Da für Clegg & Guttmann immer der ortsspezifische Bezug wichtig ist, fotografierten sie in den beiden Arbeiten eine aus Niedersachsen stammende adlige Familie und den Präsidenten und die Geschäftsführerin der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, einer der Förderer dieser Ausstellung. Diese Fotografien führen die klassische niederländische Porträtmalerei mit den Mitteln der Fotografie weiter. Komposition, Farbenkanon und Körperhaltung der abgebildeten Personen erinnern an dieses Genre.

Auch in einem weiteren Werkkomplex, den Bibliotheken, findet sich das Thema Porträt. In ihrem umfassenden Projekt Die öffentliche Bibliothek wenden die beiden Künstler den Begriff des Porträts ins Prozessuale und zielen auf gesellschaftliche Interaktion ab. Im Jahr 1991 stellten sie erstmals Bibliotheken in den öffentlichen Raum, aus der sich jedermann Bücher tauschen konnte. Durch diese Handlung erfolgte ein kollektives Porträt der Anwohner. In Braunschweig richten Clegg & Guttmann eine Bibliothek in einem Raum des Hauses Salve Hospes ein, dessen ortsspezifischer Kontext die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel darstellt. Die abgebildeten Bücherwände wurden dort fotografiert und sind für die Kenner durch den Farbenkanon der hellen Brauntöne der Bucheinbände zu erkennen. An Bibliotheken ist das Leseverhalten der Einwohner abzulesen und zeichnet so ein Porträt dieser Gesellschaft nach.

Nicht nur der Porträtcharakter verbindet die Arbeiten Mach vs. Boltzmann II mit den Porträts und der Bibliotheksarbeit, sondern auch ihr kunstimmanenter Kontextbezug. Ihre Porträtserie steht in der Tradition der niederländischen Porträtmalerei und in dem Werkzyklus Mach vs. Boltzmann II verweist Dream Machine auf so unterschiedliche Positionen wie das Große Glas von Marcel Duchamp, die Lichtkunst der Gruppe Zero oder die Maschinenskulpturen von Jean Tinguely. Die Arbeit Fortlaufende Zeichnung erinnert an das surrealistische Spiel cadavre exquis wie an die mit Kreide beschriebenen Tafeln von Joseph Beuys.

So lässt sich abschließend feststellen, dass die Arbeiten von Clegg & Guttmann eine Fortführung, Erweiterung und Untersuchung der Gattung Porträt mit den Mitteln der Fotografie, Installation, Materialansammlung, des Interviews und Videos sind.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, der alle gezeigten Arbeiten dokumentiert.

Pressetext

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Clegg & Guttmann: MACH VS. BOLTZMANN II