press release only in german

Wie kann man Realität dokumentieren? Welche und wessen Realität? Diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche, wie sie in post-sozialistischen Ländern von statten gehen, mit gewaltiger Kraft: Vergangenes wurde ausgehebelt, Perspektiven und Bewertungen haben sich verschoben, kurzum: neue Realitäten ersetzen alte. Deimantas Narkevicius, litauischer Künstler und Filmemacher, reflektiert in seinen Filmen und Fotoarbeiten Entwicklungen in einer Gesellschaft des Überganges.

Die Galerie für Zeitgenössische Kunst eröffnet am 19.5. eine Einzelausstellung von Deimantas Narkevicius. In diesem Zusammenhang werden neue Fotoarbeiten und Filme gezeigt. Die Fotos befassen sich mit jener „radikalen Modernisierung“ (Narkevicius) in Litauen, die für die Sowjetzeit charakteristisch war. Auf diesen Hinterlassenschaften der 50er und 70er Jahre sieht der Künstler wesentlich Gegenwart gebaut, auch wenn diese Vergangenheit zumeist weitgehend ignoriert wird. Der Film „Matrioskos“ erzählt im dokumentarischen Modus vom Leben vierer litauischer Prosituierten: Die menschliche und gesellschaftliche Tragik berührt und lässt augenscheinliche Diskrepanzen zwischen Bild und Narration überbrücken. Die authentischen Lebensberichte weichen einer kalkulierten Inszenierung: Die Prostituierten sind SchauspielerInnen. “Der erste Film, den ich machte”, widmet sich ebenfalls - nun deutlich ausgesprochen - der Glaubwürdigkeit der Realitätswiedergabe. Protagonist ist der Filmemacher Peter Watkins, der die Erschaffung der Realität durch den Film problematisiert. Er berichtet von seinen Versuchen, die „Form zu hinterfragen, die wir Realität nennen, zu zeigen, dass das, was wir unter Realität verstehen, sehr individuell und subjektiv ist“, während die Kamera in langsamen Einstellungen Zeichnungen abfährt, die schneebedeckte Landschaften in Litauen und sozialistische Skulpturen zeigen. Ein ortsansässiger Unternehmer hatte Statuen von Lenin, Marx und anderen gesammelt und sie im Grutko Park aufstellen lassen, in eben jenem Park, mit dem auch Narkevicius Film beginnt. Watkins Geschichte eines Dokumentarfilmers, der sich seiner eigenen Grenzen bewusst ist, wird dabei mit der eigenen kurzgeschlossen. Die Entscheidung, nicht die sozialistischen Denkmale selbst zu zeigen, sondern sie indirekt – also über die Zeichnungen (von Mindaugas Lukosaitis) – zu zeigen, produziert eine Distanz, die eine bestimmte Form der Reflexion erst ermöglicht. Denn wie Watkins sagt, ist dieser Park „für viele Litauer ein Desaster... Die Statuen von diesen Mördern mitten im Wald umgeben von Bäumen und singenden Vögeln.“

In beiden Filmen legt Narkevicius die Produktionsweise seines eigenen Films offen, und genauso wie Watkins ist er sich im klaren, dass es weder eine neutrale Position des Filmemachers noch des Rezipienten gibt, dass man von Gefühlen, Wünschen, Erwartungen oder Ideologien geleitet ist. Deimantas Narkevicius fordert die Menschen heraus, über die Konstruktion und Produktion von Realität nachzudenken und sich selbst aktiv an diesem Prozess zu beteiligen. Damit stehen auch Konstruktionen von Geschichte zur Disposition: der Geschichte Litauens, ihrer sowjetischen Vergangenheit, moderner Verspechungen von gesellschaftlichem Aufbruch. Realität wird nicht als monolithisch und unveränderlich angenommen, sondern im Sinne eines performativen, aktiven Aktes hergestellt. Das Verhältnis des Subjekts zur Realität ist wesentlich über Projektionsleistungen und Interpretationen gesteuert. Realität erscheint nie unmittelbar, sondern immer nur als Bild, als Projektion, die interpretiert werden will.

Deimantas Narkevicius wurde 1964 in Utena (Lithauen) geboren. Er studierte an der Kunstakademie in Vilnius. 2005 erhielt Narkevicius das Arend-Oetker-Stipendium, gestiftet vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI. 2006 war Narkevicius an folgenden Ausstellungen beteiligt: "Once in the XX Century", Akademie der Künste, Berlin (EA); "Un Vision du Monde", La Collection Video de Jean-Conrad et Isabelle Lemaitre, Maison Rouge, Paris; "Instead of Today", GB Agency, Paris (EA); "Plug In", Van Abbemuseum, Eindhoven "Once in the XX Century", Arnolfini, Bristol (EA); "Painting Ruins", Video Works Screening Event, Afghan Foundation for Culture and Civil Society, Kabul, Afghanistan.

Pressetext

only in german

Deimantas Narkevicius
kuratiert von Barbara Steiner