press release only in german

Am Anfang war das Missverständnis: Die Redakteurin der "New York Times" rief bei Rafal Olbinski an und bat ihn, schnell, schnell, eine Illustration für einen Text auf der "Op-Ed"-Page - der Kommentarseite der Zeitung - anzufertigen. Damals, Anfang der achtziger Jahre, gab es noch kein Faxgerät, deshalb las die Redakteurin ihm den Text am Telefon vor. Eine halbe Stunde gab sie ihm, um eine Illustrationsidee zu entwickeln. Das Problem an der Sache war, dass Olbinski gerade erst aus Polen in die USA eingewandert war und kaum Englisch verstand. Deshalb begriff er auch nur so ungefähr, worum es in dem Text ging. Als er dann seine Idee der Redakteurin schilderte, haperte es wieder an den Sprachkenntnis-sen, und die Redakteurin verstand seinen Vorschlag nicht. Entsprechend überrascht war sie dann von dem Ergebnis, als die Illustration ein paar Stunden später eintraf.

Aber sie muss doch zufrieden gewesen sein, denn der Zeichner und Maler wurde immer wieder beauftragt, und zwar nicht nur von der "New York Times", sondern auch das US-Nachrichtenmagazin "Newsweek" ließ von Olbinski, 59, inzwischen rund 20 Titelseiten anfertigen.

Als die SPIEGEL-Titelbild-Redaktion den Illustrator 1997 anrief, ob er das Thema "Die Reichen reicher, die Armen ärmer ..." bildnerisch umsetzen könne, waren zum Glück alle Sprachprobleme Vergangenheit. Und seine Zeit als flotter Zeichner bei der Tageszeitung half ihm auch in anderer Hinsicht: Nur zwei Tage blieben ihm, um ein detailreiches Acrylbild in seinem typischen ironisch surrealen Stil anzufertigen. Dem zuerst angefragten Illustrator war diese Zeit zu knapp gewesen - Olbinski aber lieferte termingerecht.

Seitdem hat der Maler 15 Titelbilder für den SPIEGEL angefertigt. Nun sind die Cover erstmals in einem Museum zu sehen: "Die Kunst des SPIEGEL" heißt die Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen, die mehr als 200 gedruckte wie auch unveröffentlichte Original-Illustrationen von 60 internationalen Künstlern vorstellt - Ölmalereien, Aquarelle, Federzeichnungen, Airbrush-Bilder und digitale Arbeiten. Zur Eröffnung reisen etliche der Illustratoren an, darunter sogar der vielfache Titel-Zeichner Braldt Bralds aus Santa Fe.

Nicht nur die Technik, auch die Zugangsweise variiert von Künstler zu Künstler erheblich: von der Karikatur, in der ein kleiner, dicker Deutscher sich im Keller versteckt ("Die Angst der Deutschen", Tilman Michalski 1982), bis zur freskenähnlichen Gottesdarstellung ("Gottes Urknall", 1998, von Ludvik Glazer-Naudé).

So machte sich der Karikaturist und Humorist Vicco von Bülow alias Loriot zur Bundestagswahl 1976 über den "Wahl-Krampf um ein Wort" - gemeint war das Wort "Freiheit" - lustig. Die Cartoonistin Marie Marcks nahm 1984 die Nachlässigkeit im Umgang mit der deutschen Sprache in einem Eltern-Kind-Dialog auf die Schippe (Sprechblasen-text: "Hey, das's echt too much, motz' den Kurzen nich so an, der rafft das heut' nicht mehr!"). Auch Illustratoren aus Australien, Großbritannien, Frankreich, Russland oder der Schweiz lieferten Titelbilder für den SPIEGEL. Skribbles - Vorentwürfe für die Cover - werden ihnen, dank moderner Technologie, gefaxt oder gemailt.

Zum ersten Mal druckte der SPIEGEL 1956 eine Auftragsil-lustration auf dem Titel: ein Porträt des damaligen Bür-germeisters von Florenz, gezeichnet von dem in New York lebenden Künstler Boris Artzybasheff. Bis dahin hatte der SPIEGEL fast ausschließlich Fotografien auf seiner Titelseite gezeigt.

Die Cover-Illustration hat jedoch eine lange Tradition: Das "Theatrum Europaeum", im Jahr 1635 gegründet, gilt als erste Zeitschrift, die ihre Front und ihre Texte systematisch mit Illustrationen anreicherte. Doch mit Ende des 19. Jahrhunderts begann der Siegeszug der Fotografie: Der SPIEGEL gehört zu den letzten Magazinen, die Themen mit Zeichnungen illustrieren, um sie so auf den ersten, kurzen Blick am Kiosk verständlich zu machen. Sind Illustrationen also nur Gebrauchsgrafiken, die letztlich dem Verkauf einer Zeitschrift dienen, oder sind sie doch Kunst? Das hänge, sagt Olbinski, von Auftraggeber und Ausführendem ab. Auch Leonardo da Vinci habe seine Gemälde schließlich als Auftragsarbeiten angefertigt. Aus seiner Sicht komme es nur darauf an, so Olbinski, wie viel Können, Herz und Kreativität in dem Bild stecke.

In seinem Fall ist die Sache jedenfalls entschieden: Seine Bilder werden längst in Kunstgalerien gehandelt - auch jene, die er als Auftragsarbeit für den SPIEGEL gemalt hat. So wurde beispielsweise das Cover "New Berlin", in dem die Stadt als Fesselballon den Rest der Welt in den Himmel steigen lässt, an einen deutschen Topmanager verkauft. Er lebt, na, wo wohl, in Berlin.

Pressetext

only in german

Die Kunst des SPIEGEL - Die Originale der SPIEGEL-Titelbilder
Zeichnungen, Gemälde und Illustrationen aus fünf Jahrzehnten
Kuratoren: Stefan Aust, Stefan Kiefer

KünstlerInnen: Daniel Adel, Boris Artzybasheff, Werner Bandel, Braldt Bralds, Rob Brooks, Loriot , Michael Deas, Hermann Degkwitz, Thomas Fluharty, Ludvik Glazer-Naudé, Robert Hunt, Gary Kelley, Alfons Kiefer, Peter Krämer, Jean-Pierre Kunkel, Liz Lomax, Marie Marcks, Wilson McLean, Tilman Michalski, Tim O´Brien, Rafal Olbinski, C. F. Payne, Michael Pleesz, Michael Prechtl, Nancy Stahl, Marco Ventura, Dewa Waworka, Dieter Wiesmüller, u.a.

www.kunst.spiegel.de

Stationen:
05.11.04 - 23.01.05 Deichtorhallen, Hamburg
04.02.05 - 06.03.05 C/O Berlin - The Cultural Forum for Photography
17.03.05 - 17.04.05 Museum für Angewandte Kunst, Frankfurt
29.04.05 - 29.05.05 NRW-Forum, Düsseldorf
15.06.05 - 17.07.05 Pinakothek der Moderne, München
27.07.05 - 28.08.05 Museum für angewandte Kunst, Wien
02.09.05 - 20.09.05 Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart
30.09.05 - 20.11.05 Littmann Kulturprojekte, Basel
07.12.05 - 07.01.06 Museum of American Illustration, New York