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Wir freuen uns, Sie über die kommende Ausstellung DIE MARMORY SHOW III, Guilty Pleasures, vom 28. April bis 15. Juli 2016, zu informieren und laden Sie hiermit herzlich zur Eröffnung, am Mittwoch den 27. April, ein.

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Guilty Pleasures Helene Hegemann

Viertel nach Fünf. Ich betrinke mich, mit Chablis und Wodka und einem Edelschnaps aus lokal geernteten Herbstpflaumen, trage ein gestreiftes Velourslederkleid von Givenchy, wiege vierundfünfzig Kilo und stelle fest, dass mein Leben zu etwas geworden ist, das Fachleute gern als „dysfunktionale Routine“ bezeichnen. Ich sehe keine Vegetation mehr, keine Eukalyptusbäume und auch keine Ziereichen. Das Hochland, in dem ich lebe, ist im Smog versunken und von Grautönen ausgelöscht, die Glashäuser sind weg, die mediterranen Feudalvillen auch. Ich sehe Nebel und einen kleinen Streifen Ozean, sonst nichts. Das ist Los Angeles, und ich beginne mich mit dem Thema „Untergang“ zu beschäftigen. So etwas kommt immer wieder vor: Eine Firma geht bankrott, jemand wird damit konfrontiert, dass er an einer Nervenkrankheit leidet, die zur irreparablen Zerstörung der Halswirbelsäule führen kann oder fährt sturzbesoffen mit einem Carsharing-Auto gegen einen Altkleidercontainer am Sunset Boulevard.

An diesem Morgen des im Nebel untergegangenen Kaliforniens entwickelt sich die vorrangig sexuelle Beziehung zwischen X und mir jedenfalls zu etwas, das mich zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren nicht nur über den Untergang als solchen nachdenken lässt, sondern darüber, ob ich den Untergang nicht vielleicht sogar will. X liegt in meinem Boxspringbett und ist in keinem guten Zustand. Normalerweise kann ich schon vom Flur aus hören, ob die Luft noch am Speichel an seinem Hals vorbei zieht, diesmal musste ich mich auf die Bettkante setzen um sicherzugehen, dass er noch lebt. Ich halte zwei Finger an seine Halsschlagader, finde seinen Puls nicht, er bewegt sich ein wenig, trotzdem suche ich weiter. Nach dreißig Sekunden habe ich seinen Herzschlag lokalisiert. Er scheint von einer Tiefschlafphase in einen Zustand gemäßigter Hirnstromwellen überzugehen und stöhnt in einer Tonlage, die komplett von seiner natürlichen Sprechweise abweicht. Seine Augenlider zittern, er richtet sich langsam auf. Zuerst öffnet er das linke Auge, ausdruckslos wie ein Stück Toast, danach schwerfällig das Rechte. Wenn X gesoffen und zum einschlafen Benzodiazepine genommen hat, setzt ab und zu die schlafbedingte Hemmung seiner Motorik aus – er spricht, schlägt um sich oder steht auf, um in der Küche meinen Räucherlachs aufzuessen. Am nächsten Morgen kann er sich dann immer an nichts erinnern und lacht. Der Blick, mit dem er mich jetzt ansieht, hat nichts mehr mit einer Überreaktion auf kreuztolerante Narkotika zu tun. Er sieht nicht durch mich hindurch, sondern gewaltbereit in meine Augen. Er steht auf, treibt mich in die gegenüberliegende Zimmerecke und sagt mir, ich solle zurück zu meinen „furchterregenden Ahnen“ kriechen, „jenen Unseligen, die sich mit drei Meter großen Spinnen um die bittere Wurzel des dürren Dschungelbodens streiten“.

Dann pinkelt er in meinen Kleiderschrank und legt sich zurück ins Bett. Ich bin fassungslos. In seinem PCP-Tabletten-Polamidon-Cocktail hat X sich als Gesamtpersönlichkeit aufgelöst. Sein Verstand ist eine abgenutzte Grammophonplatte, sein wahres Selbst so sehr zum Schatten geworden, dass er gar nicht mehr zu existieren scheint. Gin, Whiskey, Trägheit, Schuld und Tranquilizer. Das hier ist der Zustand, in dem Männer ihren Ehefrauen das Gesicht zerfleischen und danach Teile ihres rohen Fleisches aufessen. Zwei bis dreimal im Jahr lese ich in der Zeitung über Leute, die sich auf Drogen die Kehle durchgeschnitten haben oder von einem Flaggenmast am Straßenrand in den Verkehr gesprungen sind – ich rechne damit, dass X dasselbe Schicksal ereilen und er mich abschlachten wird. Anstatt zu fliehen oder den Krisendienst zu rufen mache ich jedoch bloß die Schlafzimmertür hinter mir zu und setze mich im Erdgeschoss vor den Fernseher.

Ich genieße es. Mit großem Schrecken stelle ich fest, dass ich diesen Zustand genieße – genauso niederträchtig wie ich den Vorgang genießen würde, einen überteuerten, unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellten Seidenschal zu kaufen.

Ich gebe zu viel Geld aus – obwohl ich in einem linksorientierten Haushalt groß geworden bin, in dem man, sobald man von einer „It-Bag“ spricht, darauf hingewiesen wird, „die Rules noch nicht begriffen zu haben“ („Dafür wärst du in den Siebzigern gesteinigt worden!!!“).

Ich bin abwechselnd arm und reich, ich rauche, ich trinke, ich habe kein schlechtes Gewissen.

Woraus ich ein ernsthaftes, unaufrichtiges Hochgefühl absoluten Glücks zu ziehen scheine, ist nicht Luxus; ist nichts, wofür ich ein allseits abzunickendes schlechtes Gewissen zu haben bräuchte, kein Hermestuch, kein Softspot für Justin Bieber und gut produzierte Popmusik; es ist die mangelnde Moral meines Umfelds, die meinen Mangel an Moral noch übertrumpft. Sich nicht die Frage stellen zu müssen, ob man der Böse ist, ist inzwischen mehr wert, als keiner Lebensgefahr ausgesetzt zu sein. Im Fernsehen läuft eine Doku über Südamerika. Der Sonnenuntergang im Süden Brasiliens, blutige Büffelfleischstreifen in Chile, aus Zinkplatten und Kistenbrettern improvisierte Bruchböden. Dreck, Regenwald und weiße Schmetterlinge, die zur Erinnerung an Unfallopfer auf die Autobahnen gemalt werden. Hundekadaver, Karneval, ein achtjähriges Kind mit drei Schusswunden in einem Einkaufswagen. Offene Augen, Wurminfektionen, Fußball und schlechter Sex in Autos. Man nennt das Assoziationskette, glaube ich. Ein wohliges Gefühl absoluter Verantwortungslosigkeit überkommt mich. Ich bin umgeben von Elend, menschlichem Versagen, organischem Verfall. Und im ersten Stock lauert eine Gefahr – ein unberechenbarer Faktor, der mich in einen Zustand des Überlebenwollens versetzt. Ich kämpfe nicht mehr gegen mich selbst. Ich bin die Gute. X scheint aufgewacht zu sein – ich höre, wie er die Schlafzimmertür aufreißt und den Flur im Obergeschoss entlang trampelt. Hin und her, nach zwei Runden die Treppe hinunter. Ich mache den Fernseher aus und beobachte ihn vom Sofa aus. Sein Körper ist von einem Schweißfilm bedeckt und bleicher als sonst, fast gelb. Hochgezogene Schultern, brachial lautes Zähneknirschen, er geht auf die Kücheninsel zu und holt ein mit Gummibändern zusammengehaltenes, vergammeltes Biohühnchen aus dem Kühlschrank. Ich habe es zwei Wochen zuvor für eine Suppe gekauft und festgestellt, dass es nicht vollständig ausgenommen worden ist – jetzt scheint Lake es marinieren zu wollen. Er schlägt drei Eier auf der Anrichte kaputt und fängt an, das Hähnchen darin hin und her zu wälzen. Als es überall gleichmäßig mit der Eimasse bedeckt ist, beißt er rein und beginnt zu kauen. Ich höre, wie die Flügelknochen in seinem Mund splittern. Seine Augen treten hervor, er stöhnt, kaut weiter, mich interessiert das alles zutiefst. Ich bin starr vor Angst. Und hoffe offenbar trotzdem, dass er gleich mit einem abgebrochenen Flaschenhals auf mich zu rennt und damit entweder mich oder sich selbst umzubringen versucht. Damit ich ihm das später zum Vorwurf machen kann. Damit ich irgendwas gegen den Rest der Welt in der Hand habe.