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Disobedience ist eine Ausstellung und Videostation über die Beziehung zwischen künstlerischen Praktiken und zivilem Ungehorsam und ist aus der Zusammenarbeit von PLAY gallery for still and motion pictures, transmediale 05 und Kunstraum Kreuzberg/Bethanien entstanden. Als heterogenes und sich ständig wandelndes Archiv konzipiert, versteht sich das Projekt als Wegweiser durch die Geografien des zivilen Ungehorsams: von den sozialen Kämpfen in Italien im Jahr 1977 bis zu den jüngsten globalen Protesten vor und nach Seattle. Das Projekt versteht sich aber auch als ein Atlas der Pluralität der Widerstandstaktiken: von der direkten Aktion und der Gegeninformation zum Bio-Ungehorsam. Indem verschiedene Zeichen und Situationen in Bewegung gesetzt werden, präsentiert sich Disobedience als eine Verknüpfung offener Themenkreise, an deren Definition Künstler, Aktivisten, Filmemacher, Philosophen und politische Gruppierungen mitgewirkt haben. Jeder von ihnen wurde aufgefordert, eine eigene Sektion zu bilden, andere Künstler einzuladen und weitere Materialen vorzustellen.

Interventionisten, Aktivisten und Medienkollektive werden sich nun weltweit das Terrain der Ausstellungen zu eigen machen, während die Künstler auf die Straße gehen und - indem sie das Sichtbare für die Aktion verraten -, öffentliche Foren, Aktivistenkampagnen und Protestsymbole und -mechanismen produzieren. Die einen reden von einer Rückkehr zur politischen Kunst der siebziger Jahre, andere von einer „zweideutigen“ Rückkehr. Martha Rosler empfiehlt, wieder Adorno zu lesen, als Abschreckung vor einer Mainstream Abdrift des Phänomens. Steve Kurtz vom Kollektiv Critical Art Ensemble (CAE) wurde vom FBI als verdächtiger Bio-Terrorist verhaftet. Ist also die Post-Seattle-Bewegung nur ein Remake (wenn auch in Web Cast Version) der Vergangenheit? Können die Probleme noch die gleichen sein, nachdem der sozialistische Rahmen weggefallen ist und nunmehr eine völlig veränderte Produktionsweise wie die postfordistische existiert? wenn es also nicht mehr möglich ist, eine klare Trennung zwischen intellektueller Produktion, politischer Aktion und Kultur zu bewahren? wenn es geradezu undenkbar ist, die Arbeit von den übrigen menschlichen Aktivitäten zu unterscheiden?

Das Ziel von Disobedience, einen gemeinsamen Raum für künstlerische Produktion und politische Aktion zu schaffen, bedeutet zu registrieren, dass die Gesellschaft sich wandelt und ihre eigene Sprache sowohl als politisches Subjekt als auch als Medienobjekt produziert. Die Konstruktion eines Bildes ist das, was in unseren Gesellschaften die Ebenen der sozialen Bindung definiert und was, wie Debord sagt, das vereint erscheinen lässt, was bereits in getrennter Form existiert. Die direkte Intervention des politischen Basisaktivismus – die Forderung nach Veränderung sowie auch die Möglichkeit, einen Konsens zu erreichen – misst sich immer und in jedem Fall an ihrer Fähigkeit, die bestehenden politischen Strukturen aufzubrechen, neue Wege aufzuzeigen, um den öffentlichen Raum zu praktizieren, nicht traditionelle politische Interventionsformen zu schaffen und neue Antagonismen und Formen des Dissens zu konfigurieren.

Die Entscheidung, die Aufmerksamkeit auf den zivilen Ungehorsam zu richten, hat aber noch einen weiteren Grund. Paolo Virno beispielsweise hat den zivilen Ungehorsam als die „Grundform der politischen Aktion der Multitude“ definiert. Außerhalb der liberalen Tradition, in der sich der zivile Ungehorsam der Multitude seit Thoreau gebildet hat, aber auch weit entfernt vom Willen, ihn möglicherweise zu konstitutionalisieren – wie Hannah Arendt es wollte –, kann sich der zivile Ungehorsam mit dem Staat nicht einigen und stellt dessen Befehlsbefugnis in Frage. Wenn der zivile Ungehorsam sich nicht darauf beschränkt zu verletzen, so verlangt die Defektion sogar eine bejahende Einstellung bezüglich unserer Möglichkeiten, Bilder zu produzieren, zu kommunizieren etc. indem sie das verallgemeinert, was traditionsgemäß künstlerische Praktiken waren.

Disobedience präsentiert sich als eine ausgedehnte Kartografie des Konflikts und als ein Netzwerk des zeitgenössischen Aktivismus. Der Ausstellungsparcour führt entlang zehn Zimmern in den beiden Räumen der Play Gallery und des Kunstraums Kreuzberg/Bethanien. Jedes Zimmer ist ein autonomes Teilelement einer zentralen Plattform mit historischem Charakter, die eine Sammlung Originalmaterial vom ‚Settantasette italiano’ enthält: von der Demonstration des Parco Lambro in Mailand, gefilmt von Alberto Grifi, bis hin zu den Ereignissen von Bologna und der Verjagung des Gewerkschaftsvorsitzenden Luciano Lama aus der Universität Rom - die von italienischen Videoteppisti dokumentiert wurden – und Audio-Tracks des Senders Radio Alice. Die Sektion über das 'Settantasette' fokussiert sich auf die Besonderheit des italienischen Falls als direkte Antizipation des Post-Fordismus.

Die Ausstellung widmet sich außerdem der Beziehung zwischen Kunst und Aktivismus im Post-Kommunismus (von Farockis und Ujicas Film über das Ceausescu-Prozess bis zur Prager Demonstration gegen den IWF), der weltweiten Bewegung gegen den Neoliberismus (von der Argentinien-Krise bis zum G8in der Ressler Sektion), den Arbeiterdemonstrationen in den flämischen Bergwerken (Jota Castro), den Forderungen nach sozialer Wohnungspolitik (wie z. B. den Strategien der Gruppe Park Fiction in Hamburg oder des Los-Angeles-Kollektivs Ultra Red), den Kämpfen für die Bürgerrechte sowie den Culture-Jamming-Praktiken und dem AIDS-Aktivismus. Viel Raum wird den Formen eingeräumt, die im Exodus und im Exit (nach der Definition von Albert O. Hirschman) den wichtigsten Ausdruck des zivilen Ungehorsams im Post-Fordismus sehen.

Bei der Play-Gallery sind außerdem zwei operative Stationen oder provisorische Werkstätten eingerichtet, wo wissenschaftliche sowie künstlerische Komponenten operieren werden, um Sabotageakte in Rahmen der EDV-Programmierung und der biogenetischen Transformation durchzuführen. Ein Raum ist Makrolab gewidmet, der 1997 vom slowenischen Künstler Marko Peljhan gegründeten Station, um Satellitensender rund um die Welt einzufangen. In einem anderen Raum wird Molecular Invasion vom Critical Art Ensemble (CAE) vorgestellt, ein Projekt von öffentlichen Experimenten über pflanzliche Organismen, das eine Art Biologie des Widerstandes entwickeln und Einfluss auf Biotechnologien nehmen will.

Disobedience ist als langfristiges Projekt konzipiert, das sich bei dieser Gelegenheit zwangsläufig nur als unvollständiges und provisorisches Archiv präsentieren kann. Das Publikum ist dazu eingeladen, auf weitere ähnliche Experimente oder Erfahrungen hinzuweisen, um somit das Archiv zu erweitern.

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DISOBEDIENCE - an ongoing video library
Ein Projekt von Marco Scotini in Kooperation mit transmediale05 und Kunstraum Kreuzberg/ Bethanien

KünstlerInnen, TheoretikerInnen und Künstlergruppierungen: Alterazioni Video , Argentina Arde , Delphine Bedel, Franco Berardi, Beth Bird, Black Audio Film Collective , Jota Castro, Comunitaria TV , Critical Art Ensemble , Marcelo Exposito, Harun Farocki, Ronith Gitelman & Jose Ignacio Lezcano, Alberto Grifi, Grupo de Arte Callejero , Guerrillavision , Indymedia , Kanal B , Makrolab , Gianni Motti, Paper Tiger Television , Margit Czenki / Park Fiction , Radek Community , Oliver Ressler, Pierre-Olivier Rollin, Paula Roush, Paola Salerno, Hito Steyerl, Socialist Resistance , Sven´t Jolle, The Yes Men , Tute Bianche, Andrei Ujica, Ultra-red , Ambrogio Vitali / Radio Alice, Videoteppisti , Paolo Virno, Peter Watkins, Wayruro 

gleichzeitige Stationen:
14.1.05 – 26.2.05 Play - gallery for still and motion pictures
15.1.05 – 28.2.05 Kunstraum Kreuzberg/Bethanien