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MMK1

Welchen Einfluss üben Technisierung, Automatisierung und Digitalisierung auf unsere individuelle Lebenswirklichkeit aus? Dieser weitreichenden Frage geht Ed Atkins (*1982 in Oxford, GB) in seiner umfangreichen Präsentation im MMK 1 des MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main nach. Atkins gilt als Pionier und radikalster Vertreter einer jungen Künstlergeneration, die die fundamentalen Veränderungen der Bild- und Selbstwahrnehmung des Menschen durch die rasante Entwicklung der digitalen Medien kritisch reflektiert. In seinen filmischen, digital generierten Werken erschafft er eine künstliche und zugleich hyperreale Bildwelt, die in ihrer Ambivalenz von perfekter Simulation und scheinbar technischer Unzulänglichkeit zutiefst verstörend wirkt. „Das Werk von Ed Atkins trifft auf technisch brillante und zugleich perfide Weise den wesentlichen und zugleich wunden Punkt unserer postdigitalen Gegenwart. Wie kein anderer Künstler seiner Generation erfasst er die Problematik unseres durch die digitalen Medien veränderten Selbstbewusstseins, das durch die Illusion von Grenzenlosigkeit einerseits und den Verlust von Authentizität andererseits geprägt ist. In ihrer visuellen und akustischen Intensität ziehen seine digital erzeugten High-Definition Bildwelten den Betrachter in ihren Bann und konfrontieren ihn mit existenziellen Zuständen wie Einsamkeit, Entfremdung und Vergänglichkeit.“, erläutert MMK Direktorin Prof. Dr. Susanne Gaensheimer. Das MMK präsentiert in der Ausstellung zwei filmische Installationen, die sich über mehrere Räume erstrecken. Für diese kreiert Atkins einen virtuellen Protagonisten – eine Art Alter Ego des Künstlers –, dessen Profil er kontinuierlich weiterentwickelt und der in künstlichen Welten tiefgreifende Krisen durchlebt. Jede Stimme, die zu hören ist, sowie sämtliche Texte stammen von Atkins selbst. Ebenso hat er alle seine Bildwelten mit den zur Verfügung stehenden digitalen Mitteln selbst generiert.
Die Ausstellung „Ed Atkins. Corpsing“ wird im Rahmen der Frankfurter Positionen – eine Initiative der BHF-BANK-Stiftung – gezeigt. „Die Ausstellung von Ed Atkins integriert sich hervorragend in unser diesjähriges Programm der Frankfurter Positionen, das dem Thema ‚Ich Reloaded – Das Subjekt im digitalen Zeitalter’ gewidmet ist. Hier steht veranstaltungsübergreifend die Frage im Mittelpunkt, inwiefern sich die Definition und Konstruktion des Selbstbildes im digitalen Zeitalter verändert.“, sagt Stefan Mumme, Geschäftsführer der BHF-BANK-Stiftung.

Der Ausstellungstitel „Corpsing“ thematisiert den Widerspruch, den eine computergenerierte Simulation in sich trägt. Sie vermittelt die Illusion einer eigenständigen materiellen Welt und bleibt doch nur eine Konstruktion, die durch Momente der technischen Störung als Trugbild und bloße Abbildung des Realen decodiert werden kann. Der Begriff „Corpsing“ geht zurück auf eine Redewendung aus dem Bereich des Theaters und auf ein Phänomen, mit dem sich Atkins seit langer Zeit beschäftigt. Eine von einem Schauspieler gespielte Rolle erreicht nie den Status einer authentischen Figur, sie kann diese immer nur „verkörpern“. „Corpsing“ beschreibt jenen Augenblick, in dem die Differenz zwischen dem Schauspieler und seiner Rolle zutage tritt, wenn dieser beispielweise seinen Text vergisst oder in plötzliches Gelächter ausbricht.

Die Ausstellung im MMK 1 präsentiert zwei neuere Werke des Künstlers – die filmischen Installationen „Hisser“ von 2015/17 und „Safe Conduct“ von 2016 – in einem einmaligen räumlichen Umfang. „Hisser“ erstreckt sich über die sechs Räume der gesamten ersten Ebene des Museums mit rund 800 qm. Für die Ausstellung im MMK 1 wurde sie ortsspezifisch zu einer Fünfkanalinstallation weiterentwickelt und ist hier in ihrem bisher größten Umfang zu sehen. Die Installation nimmt direkt Bezug auf die räumliche Struktur der ersten Ebene und nutzt die Architektur als integralen Bestandteil der Arbeit, über die der virtuelle in den realen Raum übertragen wird. Die Geschichte, die in „Hisser“ erzählt wird, ist inspiriert von einer wahren Begebenheit. In einer sich plötzlich öffnenden Senkgrube wurde 2013 ein junger Mann in Florida in den USA, in seinem Schlafzimmer „vom Erdboden verschluckt“. Der Hauptschauplatz im Film ist ein Schlafzimmer bei Nacht. Der Bildausschnitt ist so gewählt, als würde der Betrachter in ein lebensgroßes, verwaistes Puppenhaus blicken. Andere Sequenzen zeigen einen jungen Mann in Nahsicht auf dem Bett liegend, mit gequältem Blick oder in sich versunken in einer Ecke sitzend. Begleitet wird die Szene von einem übersteigert romantischen Song, dessen Refrain „It took me so long to get my feet back off the ground“ von dem Verlust einer geliebten Person und bodenloser Einsamkeit handelt. Die Emotionalität des Songs steht in starkem Kontrast zur Künstlichkeit der generierten Szene. Die Grenze zwischen Reproduktion und Realität ist fließend und die fast bis zur Perfektion getriebene Virtualität durch den offensichtlich körperlich und seelisch versehrten Protagonisten brüchig. Atkins führt vor, wie die Welt seines Protagonisten in sich kollabiert und in der absoluten Leere des digitalen und entmaterialisierten Raums verschwindet. Dabei dekonstruiert der Künstler die digitale Illusion, indem er seine filmischen Mittel durch simulierte Bildstörungen und Frequenzfehler offenlegt. Der Film wird auf fünf freistehenden Projektionswänden in unterschiedlichen Räumen gezeigt, wodurch sich der Sog der über alle Räume erstreckenden Bilder verstärkt und ein quälender Eindruck von Unendlichkeit entsteht.

In der Arbeit „Safe Conduct“, die auf drei großformatigen LCD-Monitoren bei Tageslicht gezeigt wird, erkennt man denselben Protagonisten, der sich in diesem Film am Fließband einer Sicherheitskontrolle befindet. Der digital generierte Raum ist ansonsten leer. Schritt für Schritt entledigt sich der junge Mann seiner Reiseutensilien und Bekleidung, bis er schließlich dazu übergeht auch seine Körperteile in die Aufbewahrungsbox zu legen. Er zieht die oberste Hautschicht seines Gesichts ab, es folgen Blut und Eingeweide, die zusammen mit Handfeuerwaffen oder exotischen Früchten in den Behälter rieseln. Wie in „Hisser“ ist das Gesicht des Protagonisten wund und impliziert körperliche und seelische Verletztheit, wodurch die Illusion von Menschsein entsteht.
Die in endlosen Schleifen stattfindende stetige Steigerung des Geschehens und seiner Absurdität wird begleitet von Maurice Ravels Boléro, der ebenfalls scheinbar als Endlosschleife komponiert ist und als eines der ersten Stücke der musikalischen Moderne für technischen Fortschritt und Modernität steht. In einer zirkulären Bewegung steigern sich Handlung und Lautstärke des Stücks, so dass eine Eskalation zu drohen scheint, die sich jedoch in der unendlichen Wiederholung der Szene wieder auflöst. Es geschieht nichts. „Safe Conduct“ ist eine deutliche Kritik an den technisierten und entmenschlichten Prozessen der gegenwärtigen Gesellschaft, in denen der moderne Mensch in seiner alltäglichen Routine bis zur Selbstauflösung gefangen ist. Kontrolle und Kontrollverlust, Sicherheit und ihre Unerreichbarkeit – Atkins unterlegt seine skeptische Weltsicht mit einer unterschwelligen Ironie, die vor allem im Titel anklingt: „Safe Conduct“ ist die offizielle Bezeichnung für ein Reisedokument, das den sicheren Transfer durch „feindliches Gebiet“ gewährt, indem eingeübte Kontrollmechanismen umgangen werden.

Atkins hat in den letzten Jahren einen einzigartigen Werkkomplex aus textbasierten und installativen Videoarbeiten geschaffen und machte mit Ausstellungen u.a. in der Kunsthalle Zürich (2014), im MoMA PS1 (2013), bei Art Now Tate Britain (2011) sowie auf der Biennale in Istanbul (2015) international auf sich aufmerksam.
Im Wintersemester 2016/2017 ist Ed Atkins im Rahmen der Frankfurter Positionen 2017 Gastprofessor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule.

Ein Werkauftrag für die Frankfurter Positionen – Festival für neue Werke 2017