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Landschaft, Körper und emotionaler Ausdruck sind die drei wesentlichen Aspekte der Ausstellung. In ihrer Kombination und Gewichtung verdichten sie sich zu Erscheinungen von Ergriffenheit. Die Werke handeln von der Faszination des Gegenübers, von erotischer Anziehung und Geschlechterkampf, von emotionaler Vereinnahmung und Erkenntnis, von elementarer Erfahrung in der Natur.

Der Ausstellungstitel „Ergriffenheit“ bezieht sich auf das Schaffen von Ferdinand Hodler (1853-1918). Er bildet den Ausgangspunkt der Ausstellung. In seinen Figurenwerken um 1900 hat Hodler die drei Elemente Landschaft, Körper und emotionaler Ausdruck nach einem stets gleichen Muster zueinander in Beziehung gesetzt: Die Landschaft ist stilisiert; der Körper ist durch die Position der Hände und die Stellung der Füsse sowohl in die Landschaft eingefügt als auch durch diese gehalten; der emotionale Ausdruck ist als Synthese von Landschafts- und Körperdarstellung zu verstehen und durch einen entsprechenden Werktitel umschrieben. Hodlers symbolistische Gemälde „Ergriffenheit“, „Empfindung“, „Entzücktes Weib“, „Zwiegespräch mit der Natur“ oder die Luzerner Fassung von „Der Tag“, welche diesen Typus in der Ausstellung exemplarisch repräsentiert, sind nuancierte Darstellungen seelischen und körperlichen Ausdrucks. Der Körper ist der Träger der Emotion und die Landschaft deren Projektionsfläche.

Ergriffenheit zeigt sich hier in zweifacher Weise: Im Bilde selbst, wo die Figur die gegensätzlichen seelischen und körperlichen Kräfte unter Kontrolle hält, wo innere und äussere Anspannung in dynamischem Gleichgewicht stehen. Und sie zeigt sich vor dem Werk: Hodlers Bildfindungen sind Ausdruck seiner persönlichen Ergriffenheit und Faszination des Körpers, vorab des weiblichen. In Hodlers Figurendarstellungen ist ein Zeitgefühl eingefangen. Der entblösste Körper wird neu entdeckt, in ihm zeigt sich das Selbstbewusstein des sich aussetzenden Individuums wie seine Gefährdung und Verletzbarkeit.

In den Bildern der Ausstellung legen die Künstlerinnen und Künstler die Körper mannigfaltig frei, entblössen sie sanft wie Paul Wyss (1897-1984) in seinem Gemälde „Der Traum“, oder stellen sie demonstrativ zur Schau wie Anton Henning (*1964) seine auftauchende Venus. Ein Bogen spannt sich zwischen lustvollem Enthüllen und schützendem Verhüllen, zwischen freudvollem Entdecken und bedrängtem Verstecken.

Werke mit nackten Körpern waren je nach Zeitumstand ein Tabubruch und wurden heftig attackiert. Hugo Siegwarts (1865-1938) „Schwingergruppe“ aus dem Jahr 1905, von der das Kunstmuseum Luzern je eine kleine Fassung in Gips und Bronze besitzt, erhitzte vor hundert Jahren die Gemüter. Die Darstellung der beiden nackten Männer wurde von kirchlichen Kreisen nicht nur als unanständig, sondern als anstössig taxiert. Man versuchte eine öffentliche Aufstellung zum Schutz der Jugend zu verhindern. Die Skulptur gehöre in ein Museum, das nicht für die breite Öffentlichkeit, für Passanten und Gaffer, sondern für zielgerichtete Interessenten und für Kunstverständige bestimmt sei, wurde gefordert. Die grosse „Schwingergruppe“ steht heute auf dem sogenannten „Inseli“ hinter dem Kunstmuseum und wird dort kaum mehr wahrgenommen. In der Zeit seiner Entstehung ebenfalls heftig kritisiert wurde Hans Emmeneggers (1866-1940) „Weiblicher Akt“ von 1907. Im gleichen Jahr musste die Kunstgesellschaft das Bild auf Anweisung der Erziehungsdirektion aus der Weihnachtsausstellung entfernen.

Siegwarts Kampfszene verkörpert Ergriffenheit wortwörtlich. Beide Schwinger sind von ihrem Gegner mit beiden Händen ergriffen worden. Die Haltung der Körper ist so, dass man das Paar drehen zu können glaubt, und dass dann die obere Figur die untere hochstemmt. Ergriffensein hat hier unmittelbar mit Kampf zu tun. Wir können aus heutiger Sicht nur vermuten, dass die Zurschaustellung von männlicher Kraft und Potenz, die sich in diesem Männerklüngel und dem spektakulären Schwung zeigt, und die aufgehobene Distanz zueinander – nackte Haut auf nackter Haut – , die Gemüter mehr irritierte als die Nacktheit an sich. Eine ganz andere Körperdarstellung als die exaltierte Kehrfigur ist Fritz Hufs (1888-1970) Porträt des Malers Olaf Gulbransson. Der Körper ist nichts als Kopf, der Kopf ist nichts als Geist: die Augen sind geschlossen, der Maler hat seinen Blick gegen innen gerichtet. Ergriffenheit zeigt sich hier als geistig-emotionales Moment, als Rückzug zu sich selbst in voller Konzentration auf einen Gedanken. Bei „Olaf Gulbransson“ bleibt dieser verborgen, bei Josef von Moos’ (1859-1939) „Das Leid“ ist er offensichtlich von Trauer bestimmt.

Noch mehr als die Porträts sind die Selbstporträts hervorragende Träger emotionalen Ausdrucks und Beleg der Selbstvergewisserung. Das bekannteste Selbstporträt in der Luzerner Sammlung ist jenes von Lovis Corinth (1858-1925), das der Künstler nach einer überstandenen schweren Krankheit schuf. Und ein wenig bekanntes, kaum je ausgestelltes Selbstporträt ist dasjenige der vergessen gegangenen Luzerner Künstlerin Mimi Langraf (1896-1967).

Neben Werken, die im Kontext von Hodler und der Kunst um 1910 stehen – etwa August Babbergers (1885-1936) frühes Porträt seiner späteren Gattin Anna Tobler –, vereinigt die Ausstellung auch Werke der Gegenwartskunst. Mit dem Blick der Fotokamera widmete sich Hannah Villiger (1951-1997) dem eigenen Körper. Die ins Monumentale übertragenen Fotografien sind von einem stark skulpturalen Interesse geprägt. Trotz der Veröffentlichung dieser persönlichen Recherche und der Vergrösserung bewahren sie ein Stück Intimität.

In der Videoprojektion „Vapor (the poetic principle)“ von Miri Segal (*1965) hat das Element Landschaft seinen starken Auftritt. In der reduzierten Installation verbindet sich für den Betrachter und die Betrachterin das Seherlebnis mit einer körperlichen Erfahrung. Wir sehen und hören das Rauschen der Bäume, währenddem uns der Ventilator Luft ins Gesicht bläst und uns so an den Ort des Geschehens zu versetzen versucht. Hier dringt eine elementare Erfahrung auf uns ein. Unsere Haut wird zur Folie, auf der sich die uns umgebende (künstliche) Natur abzeichnet. Dass der Wald selbst zum Träger von Stimmung werden kann, haben Hans Emmeneggers Waldstücke im Vorraum bereits angedeutet.

Die Gemälde von Félix Vallotton (1865-1925), die Portäts wie die Landschaften, sind Meisterwerke der Reduktion. Die Farbgebung strahlt kühle Distanz aus. Emotionalität ist zurückgehalten, erotische Ausstrahlung ist vermieden, alles bleibt unter Kontrolle. Man möchte einwenden, dass da doch mehr möglich wäre: Die Landschaften könnten kräftiger sein, bunter, belebter, die Frauen sinnlicher, begehrenswerter oder zumindest zugänglicher. In allem ist bloss Verheissung, und die Kraft der Bilder gründet in der Nichterfüllung einer Erwartung. Beklemmung stellt sich im Video „Mouth to Mouth“ von Stephanie Smith und Edward Stewart (1968/1961) ein. Die Abhängigkeit von Mann und Frau, ihre gegenseitig erzwungene Ergriffenheit, wird vom Künstlerpaar selbst in einem ebenso einfachen wie einprägsamen Bild festgehalten.

Präsentiert uns Hodler eine Weltsicht, in welcher Mensch und Umwelt als Teile einer übergeordneten Idee erscheinen, wird in den später entstandenen Werken immer mehr eine von Brüchen und Konflikten durchzogene Welt offensichtlich. Losgelöst vom Zeitbezug vermitteln uns die Werke in der Ausstellung gültige Bilder unseres steten Wunsches nach Vergewisserung und Intensität.

Christoph Lichtin, Kurator der Ausstellung

Pressetext

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Ergriffenheit - Werke aus der Sammlung von Hodler bis Henning
Kurator: Christoph Lichtin

mit Ferdinand Hodler, Lovis Corinth, Josef von Moos, Aristide Maillol, Félix Vallotton, Hugo Siegwart, Hans Emmenegger, Edouard Vallet, August Babberger, Fritz Huf, Mimi Langraf, Paul Wyss, Hannah Villiger, Smith / Stewart, Anton Henning, Miri Segal