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Das Beruhigende an einer Großstadt wie New York, deren Struktur größtenteils aus einem rasterförmigen Straßennetz besteht, ist, dass man stets das Gefühl hat, sich nie richtig verirren zu können, auch wenn man nicht genau weiß, wo man hingeht. Die 10. Avenue kommt nach der 9., die 23. Straße nach der 22. usw. Wenn man allerdings eines von Esther Stockers Rasterbildern über den Stadtplan von New York legt, sieht das Ganze anders aus. Auf die 8. Avenue würde dann vielleicht die 10. folgen und die 22. würde die 23. einfach überspringen. Manchmal wirken Stockers Bilder wie ein malerischer Stau, wobei der „visuelle Verkehr“ die Kreuzungen eines Bildes blockiert, oder sie sehen aus, als wären sie von einem Computer-virus befallen. Ihre Arbeiten widersetzen sich der Erwartung, dass sich vertikale und hori-zontale Linien kreuzen müssen, und dass parallele Linien entsprechend verlaufen; in ihrer Welt ist das an sich rationale Raster unberechenbar und auf den Raum, als eine fein säuberlich geordnete Struktur, ist auch kein Verlass mehr. Stockers Arbeiten weisen Abweichungen und Unordnung auf, wo wir diese nicht erwarten würden; sie bedient sich der geometrischen Ordnung, um sie dann außer Kraft zu setzen. In Stockers Bildern ist eine unberechenbare geometrische Ordnung zu finden, in der, wie Martin Prinzhorn feststellte, die Einfachheit der Abstraktion „nicht der Klarheit und Ordnung dient, sondern im Gegenteil, einer ganz fundamentalen Unordnung und Störung“. Es gibt auch einen zeitlichen Aspekt ihrer Arbeiten, und zwar nicht nur, weil ihre Werke eine äußerst optische Präsenz haben können, sondern auch, weil man sich ständig fragt, ob diese Linien schon mal zu einem früheren Zeitpunkt aufeinandergetroffen sind?

In Ohne Titel (2005), ein Raster aus weißen „Fliesen“ mit schwarzen „Fugen“, unterbrechen drei große Einschübe/Abweichungen das Bild, das sonst flach, einheitlich und gerastert wäre: ein vertikales Band links außen und zwei horizontale Ausschnitte, einer im rechten oberen Eck und ein anderer, der vom unteren Rand hinaufragt. Es ist, als ob Teile aus drei identischen Bildern ausgeschnitten und unordentlich auf das Bild gelegt worden wären. Es ist, als ob sich die Fliesen einer Badezimmerwand wie viele kleine tektonische Platten ver-schoben hätten, so dass die Fliesen eine Unregelmäßigkeit aufweisen, aber trotzdem noch so weit in ihrer Anordnung erkennbar sind, dass man sie wieder einordnen oder es zumindest versuchen kann. Es liegt in der menschlichen Natur, die visuelle Welt korrigieren oder berichtigen zu wollen, wenn sie von unseren physischen oder optischen Gewohnheiten abweicht. Mit ihren zweideutigen Abstraktionen richtet sich Stocker genau an diese beinah unvermeidliche Tendenz.

In einigen Arbeiten aus 2008 wird dieser Idee des Zweifels und der Unsicherheit in der Wahrnehmung auf unterschiedlichen Wegen bewusst nachgegangen. In einer der Arbeiten ist ein schwarz-weißes Raster von einem weißen „Gitter“ überdeckt, das in einem schiefen Winkel nach rechts oben neigt. Dadurch scheinen sich die weißen Linien des Gitters zu kräuseln, wenn sie durch das darunterliegende Raster führen, obwohl sie genauso gerade sind, wie alle anderen Linien auf dem Bild.

Eine andere Arbeit stellt ein Schachbrett aus weißen Quadraten und schwarzen, unregelmäßigen Formen dar, die nicht immer dem üblichen Schachbrettmuster entsprechen. Diese Unvollkommenheit destabilisiert und belebt die gesamte Fläche, die dadurch schwirrt, sich wölbt und pulsiert. Ein weiteres, unlängst entstandenes Bild, ebenfalls in Schwarz-Weiß, scheint verschwommen, und wie sehr man es auch versucht, das Bild lässt sich nicht scharf stellen. Wenn man sich das Bild in Olivgrün vorstellt, könnte es leicht für ein militärisches Tarnnetz gehalten werden.

Und es lohnt sich nicht nur diese Arbeit, sondern das Gesamtwerk von Esther Stocker im Hinblick auf Verschleierung und Tarnung zu analysieren. Esther Stocker selbst sagte einmal, ihrer Meinung nach hätte Malen zweifellos etwas mit Tarnung zu tun. Sie findet die Idee faszinierend, dass ein Bild so etwas wie eine Camouflage sei. Während Camouflage ein Muster ist, das es einem fremden Objekt ermöglicht, sich der natürlichen Umgebung anzupassen, kann es nicht Esther Stockers Absicht sein, ihre Arbeiten „offensichtlich“ zu verstecken. Es geht vielmehr um das „doppelte Leben“, das diese Bilder führen – was wir sehen und nicht sehen bzw. was wir nicht sehen, aber sehen möchten.

In den letzten acht bis neun Jahren hat Esther Stocker neben den Arbeiten auf Leinwand viele Werke als Kunst am Bau und zahlreiche Rauminstallationen geschaffen. Bei den räumlichen Arbeiten ist es, als würde man in ihre Bilder hineinsteigen. Stocker schafft einen „dreidi-mensionalisierten“ und desorientierten Raum, den Betrachter tatsächlich betreten und in dem sie sich bewegen können. Das sind theatralisierte Räume, in denen Betrachter zu Figuren auf einer Bühne werden und sich gleichzeitig doch als Fremdkörper vom Proszenium abheben. Für eine Installation im Projektraum Deutscher Künstlerbund in Berlin (2005) mit dem Titel „Geometrisch betrachtet, sind alle Formen im Raum gleichwertig“, bedeckte Esther Stocker die Wände, den Boden sowie Holzkisten, die an der Wand, auf dem Boden und an der Decke befestigt waren – einige sahen wie Tische, Bänke oder Podeste aus, andere schienen keine besondere Funktion zu erfüllen und ragten nur absurd in den Raum – mit schwarzem Abdeckband.

Diesen Raum zu betreten war, als befände man sich im Inneren eines weißen (bzw. gestreiften) Würfels. Wenn auf Photos von Stockers Installationen Menschen zu sehen sind, so fügen sich die Figuren eher unharmonisch in das Bild/den Raum. Es sieht viel eher so aus, als wären sie in ein simuliertes dreidimensionales Modell eingefügt worden, etwa auf die flache Oberfläche eines Computerbildschirmes oder ein Blatt isometrisches Papier, worauf sich auch der Titel der Arbeit Geometrisch betrachtet, sind alle Richtungen im Raum gleichwertig bezieht. Mit dieser Installation verwandelte Esther Stocker die optische Illusion, die ihre Bilder hervorrufen, etwa wenn sich Teile auf den Betrachter zuzubewegen scheinen, in physische Realität. Auch wenn die Betrachter diese Räume einnehmen und sich darin bewegen können, so ist es doch immer der Betrachter, der im Bild stört oder nicht ins Bild passt: der Betrachter als Eindringling in den Raum.

Esther Stockers Arbeiten schaffen es, trotz ihrer zweidimensionalen Einschränkung und ihrer eher bescheidenen Maße, die Wahrnehmung zu erweitern, sich Erwartungen zu widersetzen und dem Betrachter „etwas vorzuspielen“.

Esther Stocker, geboren 1974 in Wien. Lebt und arbeitet in Wien.