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Mit Le Musée Décapité führe ich meine Auseinandersetzung mit objets écrits (geschriebenen Objekten) fort, also Objekten, die immer und seit ehedem in Schriftform verfasst sind, die permanent auf ihre belletristische Seite und Entstehungsgeschichte anspielen und sich als Doppelmotiv von Einschnitt und Kumulation präsentieren, wobei die Sprachschichten, aus denen sie bestehen, unvermeidlich der Schweigsamkeit und dem System von Trennung und Missverstehen, sowie der Intertextualität und Interpretation ausgesetzt sind. Ihre Offenlegung ist - vor allem - ein Akt der Ausgrenzung.

Le Musée Décapité spielt also auf zwei zölibatäre Maschinen an deren Existenz historisch gesehen parallel verläuft und die literarisch betrachtet unzertrennlich sind: das Museum und die Guillotine.

Neben diesem Text, der lediglich Anmerkungen auf dem Weg zu seiner zukünftigen Schriftform liefert, ein belletristisches Hilfsmittel, ist Le Musée Décapité ein Akt der literarischen Entblößung ohne Worte, der zumindest ausgemerzt noch existiert: es handelt sich also um eine Ausstellung geschriebener Objekte.

Die Anmerkungen werden in der verfälschenden und trügerischen Form einer Arbeitsskizze niedergeschrieben. Diese stellt sich wie ein Scheinbild dar, eine Illusion der Zugänglichkeit, die sich durch ihr Vorhaben selbst enthüllt. Bei der Enthüllung handelt es sich jedoch keineswegs um die Rückkehr zu einem Ursprung welcher Art auch immer: weder zur Quelle, die verloren, noch zum Pantheon, das verschleiert, sondern vielmehr zur Entblößung des Theaters draußen vor der Tür. Die Arbeit innerhalb der Illusion: die einzige Art und Weise „Wahrheit durch Irrtum zu schaffen“.

1792-1793: „In Frankreich gründet die Nationalversammlung das erste Museum im modernen Sinne des Wortes (sprich: die erste öffentliche Sammlung) […]. Der Ursprung des modernen Museums ist also unmittelbar mit der Entwicklung der Guillotine verbunden.“ Ära des Grauens.

1977: Allgemeiner Waffenstillstand des Apparates, letzte Hinrichtung in Frankreich und letztmalige Benutzung der Guillotine, Eröffnung des Centre Pompidou in Paris. Verschmelzung zweier zölibatärer Maschinen zu einer einzigen: Erfindung des postmodernen Museums. Das Museum übernimmt die Funktion der Guillotine. Ort der Aussöhnung, der Rekapitulation. Jede einzelne zölibatäre Maschine: ikonische, pessimistische Struktur, zusammengesetzt aus zwei antagonistischen Modellen, begehrend und mechanisch, intensive Quantitäten autoerotischen Vergnügens produzierend, den Tod der für immer festgehaltenen Dinge im Herzen des glitzernden Räderwerks tragend. (Man könnte mechanisch durch semantisch ersetzen.)

Doppeltes Zölibat.

Durch die Guillotine (mit dem Beinamen „die Witwe“) wird die Hinrichtung demokratisiert: der Henker wird zum Vollstrecker. Vorbei die Enthauptung der Adeligen durch das Schwert (oder durch das Beil), vorbei das Hängen der Diebe, der Scheiterhaufen für die Ketzer, das Rädern der Straßenräuber, die Vierteilung der Königsmörder, das brühende Wasser für die Münzfälscher. Der Weg zur Demokratisierung des Todes ist eröffnet (der im 20. Jahrhundert seinen Höhepunkt mit der Erfindung des Denkmals des unbekannten Soldaten erreicht).

Durch die Guillotine wird zudem ein neues malerisches Genre kreiert: das Bild des durch die Guillotine Umgekommenen. Zuerst in Kupferstichen: Die Ausstellungseinladung präsentiert auf Karton das Detail von Custine’s abgehacktem blutigen Hals, der vor der Menge hin- und hergeschwungen wird vom Henker, welcher, gleich einem anonymen Perseus, der Polydectes den Kopf der Medusa präsentiert, die Menge zu Stein erstarren lässt, in der trügerischen Hoffnung, sie lasse sich in ein Volk verwandeln. Danach in Fotografien: „Unter der Guillotine hergehen“ heißt im Französischen umgangssprachlich „sich photographieren lassen“. Als Photograph wurde in Frankreich auch der Assistent des Henkers bezeichnet, der dafür sorgte, dass der Kopf nicht neben den Korb fiel. Die Guillotine ist eine photographische Blende, eine „kolossale Folterbank“, die das Bildnis des Verurteilten hinrichtet (dabei die erkennungsdienstliche Behandlung, aber auch die Figur des Verräters der Gesellschaftsordnung erfindend).

Was lässt sich noch von dem geköpften Museum sagen: „Die Maschine und die Objekte, die sie beherrschen, arbeiten sie nur auf literarischer Ebene, das heißt im Zusammenspiel mit jenem Anderen, der sie liest und in sich trägt? Sie sind einfach nur da, versteinert in der ständigen Gegenwart des nationalen Erbes, in Erwartung verharrend, lediglich als Bedingung ihres „Gegenstückes“ (dem Text) vorhanden. In dieser Landschaft ist das Museum ein Raum ohne Ausgang, eine Sackgasse: es existiert nichts als der Text […]. Die äußerste Qual hat aufgehört. Sie ist erstarrt zu einer Art Stillstand, in der alle vorangegangenen Worte, alle Toten und ihre Schreckgespenster, in die Sprache zurückströmen, die unendliche Anwesenheit der Mineralisierung duldend, (jedoch nicht mehr unterstützend) […]. Eine Fabel: ohne Macht.“

Der Betrachter des Museums beschwert sich über den Mangel an Unmittelbarkeit. Der Betrachter der öffentlichen Hinrichtung beschwert sich über die Schnelligkeit des Spektakels.

Le Musée Décapité

mit

La Veuve Célibataire (die zölibatäre Witwe), Schneide (oder Dame), Gegengewicht nicht vorhanden, ebenso: keinerlei Köpfe, Museum der Trennungen, Kumulation von Einschnitten und Ausschlüssen. Beweglich ohne Gleichgewicht, bewegungsunfähig, erzwungene Freiheit. (Hat der Marquis de Sade tatsächlich eine Tür in seine Zelle in der Bastille einbauen lassen? Eine Tür, die er nach Belieben öffnen oder schließen konnte?) Eingeschränkte Freiheit.

und

La Visite au Musée (der Museumsbesuch), auch dieser geköpft: ohne Sprache sinnentleert, eine Sprache die bereits nichts mehr darstellt, als ihr eigenes Negativbild. Kopflose Worte (siehe der Kopf Dantons, der wiederkehrt, um durch Roussel zu sprechen).

− „Man muss den Pessimismus organisieren“ sagt er. − „Worauf jedoch ruht der Blick dieser Statuen ohne Kopf?“ fragt sie. − „Ich brauche keinen Kopf, um mir die Augen vorzustellen. […] Als der Kopf gefallen ist, muss der Marmor geblutet haben“ sagt er. − „Es ist Zeit!“ sagt der Henker. Er legt den Nacken des Verurteilten bloß. − „Es ist Zeit!“ antwortet die Witwe.

Etienne Chambaud, Le Musée Décapité Sies + Höke, Düsseldorf, 3. - 28. September 2010

mit

La Veuve Célibataire (die zölibatäre Witwe), Kristall, Stahl, variable Abmessungen, 2010

Design und Fertigung: Architekturbüro MLC / Meir Lobatón Corona Strukturingenieure: Hector Triana und Victor Mata Kristall: Phuze Design / Orfeo Quagliata Stahlstruktur: Adán Perez Estrada, José Adád Perez Estrada, César Reyes Rivera, Gustavo Vega Uribe

und

La Visite au Musée (der Museumsbesuch), Marmor und Nichtvorhandensein, variable Abmessungen, 2010

Steinbildhauer (Marmor): Francisco Antonio Mauro

Etienne Chambaud (*1980) lebt in Paris. 2010 fanden folgende Einzelausstellungen des Künstlers statt: David Roberts Art Foundation, London; Kadist Art Foundation, Paris; Nomas Foundation, Rom; Labor, Mexiko Stadt und 2009 Palais de Tokyo, Paris.

Etienne Chambaud wird vertreten von Labor, Mexiko Stadt.

Le Musée Décapité wurde im Gespräch mit Vincent Normand entwickelt und durchdacht. Der vorliegende Text wurde aus dem Französischen übersetzt von Claire Merkord, Köln.