press release only in german

Konzeptioneller Ausgangspunkt der Thematischen Projektreihe Kolonialismus ohne Kolonien? Beziehungen zwischen Tourismus, Neokolonialismus und Migration ist die Annahme einer kolonialen Konstante – die gleichermassen für Staaten mit und ohne direkte koloniale Vergangenheit gültig ist – die durch wirtschaftliche und politische Machtgefüge re-produziert, durch Grenzregime aufrechterhalten wird und auf der Konstruktion eines kolonialen ‘Anderen’ beruht. Hybride Formen der Zugehörigkeit zu einem staatlichen und kulturellen Kontext, führen unmittelbar zu Fragen der Einwanderungs- und Migrationspolitik. for example S, F, N, G, L, B, C möchte migrantische Bewegungen und Ein- und Ausschlussmechanismen in Bezug auf koloniale Handlungsmuster betrachten und fragen, inwieweit sich koloniale Praktiken in der Migrationspolitik fortsetzen.

In Zürich leben Menschen aus ca. 170 Nationen, ein Drittel der Wohnbevölkerung besitzt keinen Schweizer Pass. All diese bekommen einen so genannten Ausländerausweis S, F, N, G, L, B, C zugeteilt oder verfügen über ‘keine Papiere’. Jeder Buchstabe eines Ausländerausweises formuliert Aufenthaltsrechte und damit eine Figur der Grenzsituation die Ein- und Ausschlussmechanismen markieren. Die Migrationsgeschichte der Schweiz, die mit über 20% einen der höchsten Anteile von Bevölkerung mit ‘Migrationshintergrund’ innerhalb Europas aufweist, ist in den letzten Jahrzehnten bestimmt von politischen Debatten ob die Schweiz ein Einwanderungsland ist oder restriktiv ihre Grenzen in der ‘Festung Europa’ stabilisieren muss. Die verschiedenen Konjunkturen der migrantischen Bewegungen führten immer wieder zu Debatten um einen Einwanderungsstopp.

Die Saisoniers, die überwiegend im Strassenbau und Tourismussektor gearbeitet und diesen kontinuierlich etabliert haben, sowie die ‘Gastarbeitermigration’ aus Südeuropa, welche verstärkt in den 60er Jahren begann und die Schweizer Wirtschaft angekurbelt hat, führte in den 70ern im Zuge der Auseinandersetzung um die Einbürgerungen, zur Diskussion über ‘Überfremdung’. In den 80ern steht, neben der Frage nach den Ausschluss- und Integrationsmechanismen der ‘Secondos’ (zweite Generation), die Debatte um die Asylsuchenden im Vordergrund. Erneut wird von dem ‘vollen Boot’ gesprochen. Während das Schweizer Aktionskomitee gegen den Schengen/EU-Beitritt noch im Sommer 2005 mit Parolen wie „Sicherheit verlieren? Arbeit verlieren?" in einer grotesken Bildsprache, die das Fürchten lehren soll, für eine generelle Abschottung der Schweiz auch gegen EU-Staaten (rund 60% der in der Schweiz lebenden Menschen ohne Schweizer Pass kommen aus der EU) warb, haben sich die Abgrenzungsbemühungen mittlerweile an die Grenzen der EU und darüber hinaus verschoben.

Der Prozess der europäischen Integration verschärft dabei bipolaren kolonialistisch geprägte Ein- und Ausschlussmechanismen, die sich auch an der aktuellen Verschärfung der so genannten Asyl- und Ausländergesetze ablesen lassen. Das den Regelungen zugrunde liegende ‘Zwei-Kreis-Modell’ ermöglicht Zuwanderung aus EU-Staaten, verunmöglicht aber nahezu – abgesehen von Ausnahmeregelungen für Hochqualifizierte und eine Leistungsprominenz für welche die Arbeitsmärkte selektiv offen sind – den Zuzug aus so genannten ‘Drittstaaten’. Parallel zum Beitritt zum Schengener Informationssystem (SIS) ab 2008, hat die Schweiz damit ein Gesetz angenommen, das auf Grund der Repressions- und Abschreckungsmassnahmen eher die Bezeichnung ‘Asylverhinderungsgesetz’ verdient, welches in Teilen schwer vereinbar mit geltenden völkerrechtlichen Bestimmungen beziehungsweise humanitären Traditionen der Schweiz ist, und das Land zu einer Festung innerhalb der ‘Festung Europa’ macht – deren Grenzen aber nicht primär und ausschliesslich das Staatsgebiet markieren, sondern teilweise im Land selbst oder an, bzw. ausserhalb der Grenzen der EU liegen. Während durch die Ausweitung von Grenzregimen auf Nachbarstaaten der EU versucht wird, bereits ‘illegale’ AUSwanderung zu verhindern (also noch ehe es zu einer EINwanderung kommen kann), werden im Inland für diejenigen, die es trotzdem geschafft haben ‘einzureisen’, weitere Abgrenzungen eingeführt, die Persönlichkeitsrechte und Bewegungsfreiheit einschränken. Bürokratische und juristische Kategorisierungen wie die so genannten Ausländerausweise S, F, N, G, L, B, C in der Schweiz (zusätzlich des inoffiziellen Status Sans-Papiers) stellen eine Form des Aufenthaltsrechtes dar und damit eine Figur der Grenzziehung und - erfahrung, die bestimmte Ein- und Ausschlussmechanismen kennzeichnet und klassifiziert.

Die Thematische Projektreihe Kolonialismus ohne Kolonien? möchte im dritten Teil migrantische Bewegungen in Bezug auf koloniale Handlungsmuster untersuchen. Nur ausschnitthaft und punktuell kann in diesem Projekt der Versuch unternommen werden, Abhängigkeitsstrukturen, rassistischen Tendenzen der Abgrenzung, sowie (post-)kolonialen Alltagsphänomenen in der Schweiz und Europa nachzugehen. Wer darf einreisen und wohin und zu welchem Zweck? Wie prägt und transformiert der migrantische Alltag die europäischen Metropolen? Welche Assimilierungsprozesse, identitätsstiftenden Phänomene oder interventionistischen Praxen werden formuliert und etabliert? Die Beteiligten des Projektes untersuchen Dynamiken und Phänomene der migrantischen Bewegungen im Spannungsfeld einer europäischen transnationalen Gesellschaft, die gegenwärtig wieder verstärkt von rassistischen und neopatriotischen Tendenzen infiltriert ist.

In Dialog steht diese Projektkonzeption mit From /To Europe #3 (verlinkt zu From To), das sich mit der sozialen, ökonomischen, technologischen und geografischen Spaltung des Zugangs zum Datenverkehr, der Frage der Zugriffsmöglichkeiten im globalen Süden auf mediale Netzwerke und Kommunikationsstrukturen sowie mit der Frage nach den Rechten von Wissenseigentum in Bezug auf das globale Copyright-Regime auseinandersetzt.

Projekte von: Franca Candrian, Cicero Egli und ACOR SOS Racisme, forschungsgruppe_f, Kanak TV, Brigitta Kuster und Moise Merlin Mabouna, Pia Lanzinger, Anne Lorenz und Rebekka Reich, Christian Mayer und Yves Mettler, Caterina Mona, Jesper Nordahl, Silvia Orthwein-Erhard und Daniel Usbeck, Philippe Rekacewicz, Oliver Ressler, Hanna Salzer und Philip Hofmänner, schleuser.net, Sofie Thorsen, David Vogel, Diana Wyder

Pressetext

only in german

for example S, F, N, G, L, B, C - Eine Frage der Grenzziehung
Dritter Teil der Thematischen Projektreihe
KOLONIALISMUS OHNE KOLONIEN?
BEZIEHUNGEN ZWISCHEN TOURISMUS, NEOKOLONIALISMUS UND MIGRATION

Projekte von Franca Candrian, Cicero Egli / ACOR SOS Racisme, forschungsgruppe-f , Kanak TV, Brigitta Kuster / Moise Merlin Mabouna, Pia Lanzinger, Anne Lorenz / Rebekka Reich, Christian Mayer / Yves Mettler, Caterina Mona, Jesper Nordahl, Silvia Orthwein-Erhard / Daniel Usbeck, Philippe Rekacewicz, Oliver Ressler, Hanna Salzer / Philip Hofmänner, schleuser.net, Sofie Thorsen, David Vogel, Diana Wyder