press release only in german

Francesco Clemente, geboren 1952 in Neapel, ist für seine außergewöhnliche Bildsprache bekannt, die aus einer Vielzahl von zeitlosen Symbolen, Mythen, Kulturen und Philosophien schöpft. Sein mit Sinnlichkeit und Spiritualität aufgeladenes Œuvre kreist um die großen Fragen des menschlichen Individuums. Der vielseitige Einsatz unterschiedlichster Materialien sowie die Fülle persönlicher Erkenntnisse und Erfahrungen zeugen von Clementes bewegtem künstlerischem Leben, das er zwischen Italien, New York und Indien verbringt. In der ersten umfassenden Einzelausstellung in Deutschland seit mehr als 25 Jahren werden in der Schirn Kunsthalle vom 8. Juni bis 4. September 2011 rund 40 Werke aus den Jahren 1978 bis 2011 zu sehen sein. Das Spektrum reicht von frühen Arbeiten auf Papier über großformatige Gemälde bis zu den spektakulären monumentalen Aquarellen neueren Datums. Die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler konzipierte Ausstellung beleuchtet erstmals die Bedeutung des Palimpsest-Verfahrens in Clementes Werk. Die historische Technik der teilweisen Tilgung, Ausradierung und Überlagerung von Schreibflächen unter Beibehaltung von Spuren früherer Schichten wird zum Schlüssel für den Bildkosmos des Künstlers.

Clementes in verschiedensten Medien wie Pastell, Fresko, Öl, Gouache und Aquarell entstandene Arbeiten verweben traditionelle Porträtmalerei und Erzählformen mit persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen. Formen und Motive tauchen auf, treten wieder in den Hintergrund und lassen so Werke entstehen, die sich in mehreren Schichten entfalten. Diese Ästhetik zeigt große Ähnlichkeit mit der Technik des Palimpsestierens, mit der in der Antike und im Mittelalter Manuskriptrollen durch Kratzen, Radieren oder Waschen gereinigt und neu beschriftet wurden, wobei oft Spuren der Originaltexte unter den neuen Schichten erhalten blieben. Clemente greift dieses künstlerische Verfahren auf, indem er Zeichen, Embleme und Symbole aus ihren kunsthistorischen Kontexten löst und spielerisch in neue Sinnzusammenhänge überträgt. Die Fülle von Verweisen, ihre gegenseitige Auslöschung und Überlagerung stehen sinnbildlich für sein gesamtes Werk, das sich immer wieder über- und fortschreibt.

Diese Technik verweist auch auf Clementes künstlerische Herkunft. „Der ursprüngliche Impuls in meinem künstlerischen Leben war, zu schreiben und vom Schreiben zum Bild durchzubrechen“, so Clemente. Dass dem 1952 in Neapel geborenen Clemente Sprache ein Anliegen ist, zeigte sich bereits in frühen Jahren, als der Zwölfjährige den Gedichtband „Castelli di Sabbia“ veröffentlichte. In den darauffolgenden Schuljahren beschäftigte er sich intensiv mit Griechisch und Latein. 1970 zog er nach Rom, wo er in einer Ära zum Künstler heranreifte, in der das Bedürfnis nach einer Erneuerung des Bewusstseins allgegenwärtig war. Seit dieser Zeit hat er sich kompromisslos der Aufgabe verschrieben, Bildern Gestalt zu verleihen, die mehr Verständnis dafür schaffen, mit herkömmlichen Vorstellungen des Ichs zu brechen, um zu einem erweiterten Bewusstsein zu gelangen. Dieses Ziel und das tiefe Interesse an Philosophie und Spiritualität führten Clemente 1973 zum ersten Mal nach Indien. In der an der Ostküste Südindiens liegenden Stadt Madras, dem heutigen Chennai, sollte er in unregelmäßigen Abständen mehr als die Hälfte der 1970er-Jahre verbringen. Mit der Schauspielerin Alba Primiceri, die er 1974 traf und bald heiratete, lebte er in einfachen Verhältnissen, errichtete ein Atelier, arbeitete mit lokalen Künstlern zusammen und tauschte sich mit Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft aus. Nach seiner Rückkehr nach Rom Ende der 1970er-Jahre wurde Clemente von der Kunstkritik der italienischen Transavanguardia um Sandro Chia, Enzo Cucchi und Mimmo Paladino zugeordnet. Obwohl die Transavanguardia damals große internationale Aufmerksamkeit auf sich zog, grenzte Clemente sich bald von der Gruppe ab.

1980 ging Clemente erstmals nach New York. Bald nach seiner Ankunft begann er nicht nur mit Autoren wie Allen Ginsberg und Robert Creeley zusammenzuarbeiten, auch der zeitgenössische Komponist Morton Feldman schloss sich bald dem utopischen Zirkel an, der sich in Clementes New Yorker Atelier entfaltete. 1981 – zur selben Zeit, als der sogenannte Tod der Malerei verkündet wurde – fing Clemente an, sich umso intensiver mit den Möglichkeiten dieses Mediums auseinanderzusetzen. Das Ergebnis waren zahlreiche Gemeinschaftsarbeiten mit Ginsberg und Creeley, aber auch mit Jean-Michel Basquiat und Andy Warhol. Dieser offene, kollaborative Ansatz sowie seine innovative Malerei, die sich einer Reihe von Materialien bediente, die von zeitgenössischen Künstlern nur selten verwendet wurden, ließen Clemente zum Star der internationalen Kunstszene aufsteigen. Seine Werke waren ebenso auf der documenta 7, Kassel (1982), wie auf der Biennale di Venezia (1988, 1993 und 1995) zu sehen. Einzelausstellungen fanden u. a. in der Nationalgalerie Berlin (1984), der Kestnergesellschaft, Hannover (1984/85), dem Centre Georges Pompidou, Paris (1994), dem Solomon R. Guggenheim Museum, New York (1999), sowie im MADRE Museum, Neapel (2009), statt.

Die Ausstellung „Francesco Clemente. Palimpsest“ in der Schirn Kunsthalle geht Clementes Vorgangsweise der Überlagerung und Verwandlung in drei Ausstellungsbereichen nach. Der erste Abschnitt ist drei großformatigen Aquarellen gewidmet, jedes über achtzehn Meter breit und 1,85 Meter hoch. Das schriftrollenartige Format und die fließenden, sich verwandelnden Formen der mit dem Titel „A History of the Heart in Three Rainbows“ versehenen Werke lassen diese als fast natürliche, eindringliche Palimpseste des menschlichen Geistes erscheinen – sozusagen als Landschaften geistiger Evolution. Die monumentalen Aquarelle, die aus sich ständig verändernden Farbschichten zusammengesetzt sind, beschwören unterschiedliche Bewusstseinszustände herauf, die verebben, um dann neue Dimensionen anzunehmen. In den Erzählungen von „A History of the Heart in Three Rainbows“ ist das Herz die Hauptfigur. Es bewegt sich aus der Isolation in die Fragmentierung, in die Verstrickung und schließlich in die Freiheit und Verwandlung.

Für den zweiten Ausstellungsraum hat der Künstler eine Reihe großformatiger, semiabstrakter fotografischer Flächen geschaffen. Diese direkt auf die Innenwände der Schirn-Rotunde applizierten „Papierbahnen“ enthalten Fragmente von Korrespondenzen, Objekten, Arbeiten und Schnappschüssen seines Ateliers am Broadway und versinnbildlichen so den poetisch und kulturell eklektischen Zusammenhang, aus dem Clementes Kunst sich immer neu generiert.

Im dritten und letzten Ausstellungsraum stößt der Besucher auf rund fünfundzwanzig mehr oder weniger chronologisch angeordnete Schlüsselwerke Clementes aus den Jahren 1978 bis 2011, die sich in der Art eines gemalten Palimpsests entfalten. Sie zeugen von Clementes Talent im Verhüllen und Enthüllen von Motiven und Symbolen, aus dem eine Kunst entsteht, die gewissermaßen als Palimpsest eines kollektiven und individuellen Bewusstseins überlebt. Nach dem Anschlag auf das nur wenige Straßen von seinem Atelier gelegene World Trade Center am 11. September 2001 verspürte Francesco Clemente verstärkt den Drang, Kunst zu schaffen, die Brücken zwischen Menschen, Kulturen und Welten baut. Mit Werken wie „For a History of Women“ (2009) und „Camouflage Paradise“ (2010) lotet er intensiver als je zuvor die Möglichkeiten zur Nutzung „kontemplativer Sprachen“ aus, die, wie er meint, „trotz des unablässigen Zerstörungswerks der Industriegesellschaft noch immer lebendig sind“. Die nunmehr zu Serien erweiterten Arbeiten bringen seine wachsende Überzeugung zum Ausdruck, dass er in seiner Rolle als Künstler wie ein universeller Zeuge des Bewusstseins agiert. Alles andere als ein bloßer Collagist, hat Clemente sich während der vergangenen vierzig Jahre zum Pionier einer neuen Form von Historienmalerei entwickelt, die eine stille, aber eindringliche meditative Kraft besitzt. Die fortwährende Umwandlung von Lebenserfahrung in Kunst verleiht Clementes Arbeiten eine tiefe Ruhe und Transzendenz, die den Betrachter unmittelbar berührt.

only in german

Francesco Clemente
Palimpsest
Kurator: Pamela Kort