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Vom 7. Dezember 2007 – 24. Februar 2008 zeigt das Kunsthaus Zürich rund 70 Zeichnungen und Grafiken von Honoré Daumier (1808-1879). Die Kabinett-Ausstellung thematisiert das Pariser Grossstadtleben, zeigt Gaukler-Szenen und präsentiert Illustrationen zu Cervantes «Don Quichotte» sowie andere Werke aus der von Revolution und Migration geprägten Gegenwart des innovativsten und produktivsten Zeichners im 19. Jahrhundert.

FIGURENKOSMOS DES ENTWURZELTEN STÄDTERS Daumiers Gedanken kreisten um einprägsame Themen. Die Ausdrucksköpfe, sogenannte «têtes d’expression», ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Schaffen und durch die Ausstellung im Zürcher Kunsthaus: die Alltagswelt der Kleinbürgerinnen und Handwerker bei der Arbeit und in der Freizeit oder unterwegs im Eisenbahnabteil, die Gaukler und Strassenmusikanten, die Kritiker, Kunstsammler, Anwälte und Richter. Sie symbolisieren den Figurenkosmos des entwurzelten Städters auf der Flucht vor der Banalität und auf der ständigen Suche nach etwas Zerstreuung. Die Auflösungserscheinungen der modernen Grossstadt versucht Daumier in Gestaltungen mit allegorischer Tendenz zu bannen, deren Motive teils der Literatur, teils der eigenen Fantasie entstammen: Migranten auf der Flucht, das einzelne Kind, das staunend die Welt entdeckt, der nachdenkliche Gaukler als Künstler sowie Szenen aus «Don Quichotte».

DEM ZEICHNER IN DER AUSSTELLUNG ÜBER DIE SCHULTER SCHAUEN Zeichnen war für Daumier gleichbedeutend mit Verstehen wollen, was die moderne Welt im Innersten zusammenhält. Ein ausgeprägter Sinn für den linearen Ausdruck einer Physiognomie, einer Haltung oder einer Bewegung, wie auch seine Fähigkeit, den Raum mittels Schatten und Licht zu erschliessen, waren ihm dabei ebenso behilflich wie die Kunst, durch das Schwarzweiss der Zeichnung im Betrachter Farben und Gedanken zu evozieren. Daumier zeichnete alle seine Figuren aus dem Gedächtnis. In keinem Medium fühlte sich Daumier, der die alten Meister verehrte, so frei wie in der Handzeichnung. Delacroix, Corot, Millet und Rousseau hielten ihn auf diesem Gebiet für einen der Grössten ihrer Zeit. Seine Technik war alles andere als akademisch korrekt. Auf anspruchslosen Papieren improvisierte er direkt aus dem Gedächtnis. Leichthändig entwarf er zuerst die Hauptlinien der Zeichnung mit trockener Kreide oder Kohle, dann lavierte er sie mit dem Pinsel. So brachte er strahlendes Licht und tiefste Schatten, in feine Grauabstufungen verteilt, zu Papier. Zuletzt zog er mit fetter Kreide oder mit Feder die Hauptakzente kräftig nach. Die Besucher werden in den Entstehungsprozess der 23 Zeichnungen eingeweiht, die der Konservator Bernhard von Waldkirch neben 45 Grafiken, drei Plastiken, einem Lithografenstein und einem Gemälde zusammengestellt hat. Seine Auswahl thematisiert das Verhältnis von Zeichnungen zur Aquarell- und Ölmalerei, zur Grafik sowie zur Plastik im Werk Daumiers. Der Betrachter schaut dem Künstler, wie auf dem Blatt «Le dessinateur» gezeigt, über die Schulter. Bei der öffentlichen, damals von der Zensur hautnah verfolgten Grafikproduktion wäre dies undenkbar gewesen.

VOM PORTRAITIST DER MÄCHTIGEN ZUM OPFER DER ZENSUR Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, machte der Sohn einer südfranzösischen Einwandererfamilie ungewöhnlich schnell Karriere. Den sozialen Aufstieg schaffte er bereits mit zweiundzwanzig Jahren als Karikaturist der Abgeordneten der Nationalversammlung, des Königs und seiner Minister. In den Wirren der Juli-Revolution wurde er über Nacht zu einer Berühmtheit, von der ganz Paris sprach und vor der sich die Mächtigen in Acht nehmen mussten. Wegen einer Lithografie, die den Bürgerkönig als den unersättlichen Riesen Gargantua aus dem gleichnamigen Roman von Rabelais darstellt, wurde Daumier 1831 wegen Majestätsbeleidigung für sechs Monate ins Gefängnis gesteckt. Daumier verabschiedete sich von der politischen Karikatur, nachdem diese 1835 von der Regierung der Julimonarchie verboten worden war. Er wandte sich ver-mehrt der gesellschaftlichen Satire zu. In den ersten beiden Jahrzehnten seiner Karriere lebte er fast ausschliesslich von den Einnahmen des populären Journa-lismus. Dies war nicht ohne Risiko, denn 1860 wurde er als Folge der wieder eingeführten Pressezensur ohne Abfindung für drei Jahre «freigestellt».

ALS FREIER KÜNSTLER ZU LEBZEITEN GESCHMÄHT Als freischaffender Künstler hielt er sich mit Arbeiten für einen kleinen Kreis von Amateur-Sammlern über Wasser. Diesem Umstand verdankt die Geschichte den grössten Anteil der heute erhaltenen Zeichnungen, die von der Kunstwissenschaft auf die 1860er Jahre datiert werden. Daumier betätigte sich in den wichtigsten künstlerischen Medien des 19. Jahr-hunderts. Die Technik der Ölmalerei konnte ihn zwar zur Verzweiflung bringen. Doch dreissig Jahre vor Degas und Cézanne gelang ihm, mehr aus der Not geboren, eine folgenreiche Entdeckung. Er verfiel dem Reiz des Unvollendeten in der Komposition, was in der Folge als neues ästhetisches Paradigma in die Kunstgeschichte einging. Als Bildhauer schuf er mit seinem schnauzbärtigen «Ratapoil» (1851), der politischen Personifikation des Bonapartismus, eine Inkunabel der modernen Plastik. Doch der Durchbruch als freischaffender Künstler blieb Daumier zu Lebzeiten versagt.

PUBLIKATION Die Ausstellung wird von einem Buch begleitet. Autor Bernhard von Waldkirch zeigt und kommentiert darin Köpfe, Figuren und Porträts, widmet sich einzelnen Motiven wie den Juristen, Gauklern oder Strassenmusikanten, schreibt über Mobilität und Arbeit, die Vergnügungen der Freizeit und nicht zuletzt, wie die Betrachter gelangweilt oder anerkennend der Kunst gegenüberstehen. Das Buch ist im Hirmer Verlag München erschienen und umfasst 118 Seiten mit 46 farbigen Abbildungen.

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Honoré Daumier