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"I have no memory" - diese Bemerkung Andy Warhols mutet an wie eine Legitimationsgrundlage für seine Sammelleidenschaft und den fast zwanghaften Versuch, sein Lebens- und Arbeitsumfeld umfassend zu dokumentieren. Nachdem im Sommer 2002 in der von Jan Winkelmann kuratierten Ausstellung "Gee... how glamorous" - Andy Warhol: Stars und Theatralität (Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig) die wichtigsten Inszenierungsmechanismen im Werk Warhols dargestellt wurden, widmet sich der zweite Teil der Ausstellung Strategien der Dokumentation und des Sammelns in Warhols Oeuvre. In gleichem Maße wie Warhol die Künstlichkeit von Ruhm, Glanz und Glamour ein Leben lang faszinierte, war er von der Idee der (vermeintlich) "neutralen Bestandsaufnahme" begeistert.

Bereits in der "Death- and Desaster"-Serie der frühen 60er Jahre, die auf Zeitungsfotos von Unfällen und Katastrophen basierte, wird eine Strategie der Aneignung (von existierenden, bereits reproduzierten Bildern) deutlich, mit der Warhol die Medialisierung von Wirklichkeitserfahrung der damaligen Zeit unmittelbar thematisierte.

Zwischen den Polen persönlicher Involviertheit und distanzierter Bestandsaufnahme sind viele von Warhols frühen Filmen als eintönige 1:1-Wiedergaben alltäglicher Handlungen in extensiver Dauer entstanden. Sei es der sechsstündige Film "Sleep", der einen schlafenden Freund des Künstlers zeigt, das eineinhalbstündige Rauchen einer Zigarre ("Henry Geldzahler"), der halbstündige "Blow Job" oder die 220 "Screentests", unbewegliche Vier-Minuten-Porträts von Personen aus Warhols Umgebung beziehungsweise Gästen der Factory. Bei all diesen Filmen wird durch die starre Kamera und die Dauer und Eintönigkeit der Handlung das Erleben von Zeit intensiviert.

Neben dem Medium Film nutzt Warhol für seine fast manische Dokumentationswut das Tonbandgerät, mit dem er hunderte von Stunden an Gesprächen und Telefonaten aufzeichnete. Darüber hinaus fotografierte Warhol ständig und überall. Als eine Art "Visual Diary" entstanden tausende von Fotos, die ab den 70er Jahren zum Teil auch als Vorlage für seine Siebdrucke dienten. Das von Warhol herausgegebene Magazin Interview stellt eine Art Chronik und Dokumentation der amerikanischen Celebrity-Welt der 70er und 80er Jahre dar.

Ab 1974 sammelte Warhol alles, was er nicht filmen, fotografieren oder aufzeichnen konnte, in so genannten "Time Capsules". Bis zu seinem Tod sind 610 dieser "Zeitkapseln" entstanden, die größtenteils Fotos, Zeitungen, Zeitschriften, Fanbriefe, Geschäfts- und Privatkorrespondenz, Ausstellungskataloge, Telefonnachrichten, Einladungen für Dinners, Dichterlesungen, Ausstellungen, Partys und vieles mehr beinhalten. Sie geben einen weiteren unvergleichlichen Einblick in Warhols Welt.

Schließlich diktierte Warhol von 1976 bis 1986 seiner Privatsekretärin Pat Hacket jeden Morgen telefonisch detailliert seine Erlebnisse vom vorherigen Tag. Posthum wurde dieses mehrhundertseitige Zeitdokument 1989 unter dem Titel "The Andy Warhol Diaries" veröffentlicht und gibt einen tiefen Einblick in die letzte Dekade von Warhols Leben.

All diese "Instrumente" dienten Andy Warhol der Dokumentation seines eigenen Lebens- und Arbeitsumfelds. Dies jedoch nicht allein im konventionellen Sinne einer "biographischen Aufzeichnung", sondern auch in Form der distanzierten Rolle des Beobachters und Chronisten seiner Zeit und letztlich auch als eine Art von obsessiver persönlicher Weltaneignung. Zum Teil nutzte er die so entstandenen "Ergebnisse" wiederum als Ausgangsmaterial für bildkünstlerische Arbeiten, zum großen Teil jedoch wurden sie von Warhol selbst nicht mehr verwendet und stellen heute einen ob ihrer Zahl und Größe kaum mehr zu sichtenden Fundus dar, der Warhols Leben und sein soziales Umfeld in Form unterschiedlichster Paraphernalien vielschichtig dokumentiert.

Nicht zuletzt bieten Warhols eigene Sammlungen einen unvergleichlichen Einblick in seine Sammelleidenschaft. Nach seinem Tod wurden sie in einer zehntägigen Auktion bei Sotheby's versteigert und erzielten einen Erlös von über 25 Millionen Dollar.

In den vergangenen Jahrzehnten gab es unzählige thematische Warhol-Ausstellungen, die jedoch fast alle den klassischen Zugang über bestimmte Sujets oder Werkgruppen suchten. Sowohl "Gee... how glamouros" als auch "I have no memory" ermöglichen einen anderen Blick auf Warhols Werk aus einer zeitgenössischen Perspektive. So werden die oben genannte Thesen anhand von dokumentarischen Fotos, Büchern, Katalogen, Ton- und Filmdokumenten sowie sonstigem Archivmaterial dargestellt. Mit der Präsentation, die bewusst auf Originale von Andy Warhol verzichtet, werden zudem Fragen nach dem Stellenwert und der Aura des Originals aufgeworfen.

Pressetext

only in german

"I have no memory"
Dokumentationsstrategien und Sammelobsession bei Andy Warhol

Kuratiert von Jan Winkelmann