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Independence
22.09.2018 - 02.12.2018

Unabhängigkeit in der Kunst meinte unter der Bezeichnung “Autonomie” lange Zeit den Freiraum künstlerischen Arbeitens unabhängig von Einflüssen durch Markt und Staat. So dienten Künstlerinnen insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Projektionsfläche für ein von Zwängen befreites Leben, das relative Unabhängigkeit von sozioökonomischen Bedingungen versprach. Von der Vorstellung, Künstlerinnen seien die, die sich die Freiheit nehmen, die man sich als bürgerliches Subjekt nicht traut, wurde mittlerweile Abstand genommen. Auch die von einer Reihe von Künstler*innen für eine Weile verfolgte Beschäftigung mit den sie einschließenden Institutionen und den mit ihnen verbundenen Zwängen führte auf Dauer nicht weiter. So notwendig es war, begann das ständige Zeigen auf die Unfreiheit der eigenen Situation doch nach bezahlter Kritik zu riechen und stabilisierte die sich mit Selbstkritik schmückenden Institutionen, statt die durch Analyse und Kritik herausgearbeiteten Verhältnisse zu transformieren. Heute sind diese Verhältnisse porös und die einzelnen Akteure voneinander abhängig wie eh und je. Und trotzdem ist die Kunstwelt zugleich eine in sich geschlossene Welt, deren Regeln und Öffnungen nach ständiger Befragung verlangen.

Bei der in Independence gezeigten künstlerischen Haltung handelt es sich nicht um eine skeptische, Distanz suchende Position, sondern um eine, die im Inneren der Strukturen und Geschichten von Kunst aus dem Vollen schöpft. Sie ist geradezu fasziniert von den Mechanismen, die Wert- und Geschmacksbildungsprozesse prägen. Sie ist motiviert von dem Interesse daran, wie und wann symbolischer Mehrwert und Begehren entstehen, die sich gerade in der zeitgenössischen Kunst als spezifische Formen der verfeinerten Auseinandersetzung mit ästhetischen und gesellschaftlichen Dynamiken äussern. Dynamiken, die sich in anderen und hier ebenfalls aufgerufenen Sphären der kulturellen Produktion wie Mode und Film oftmals in deutlicher definierten Ordnungen vollziehen.

Independence wird im und ausserhalb des Kunsthallen-Gebäudes von Kulissen gerahmt, die sich auf zwei Filme beziehen: In Einer flog über das Kuckucksnest von Milos Forman (1975) stellt Randle McMurphy (Jack Nicholson) in einer psychiatrischen Anstalt die herrschende Ordnung in Frage und lässt sie aus den Fugen geraten. “In dem Film geht es nicht um Geisteskrankheit, sondern um einen freien Geist in einem geschlossenen System” (Roger Ebert, Filmkritiker). Der zweite filmische Bezug ist Lars von Triers Melancholia (2011). In diesem Film sieht Justine (Kirsten Dunst), die an Depressionen leidet, die Kollision der Erde mit dem Planeten “Melancholia” voraus. In dem apokalyptischen Film steht die Konfrontation mit dem Gefühl existentieller Leere im Vordergrund. Die filmischen Bezugnahmen eröffnen Deutungen, die sich allegorisch auf die Institution Kunst und ihre Gesellschaft übertragen lassen könnten. Eine Anstalt für sich, in deren unerbittlicher Dynamik sich manche Individuen nahe an den psychischen Abgrund herangeführt sehen.

Einen möglichen Rückzugsort bildet das eigene Lebensumfeld. Es ist ein Charakteristikum der künstlerischen Position hinter Independence, das eigene Lebensumfeld und die eigene Lebensweise, die “Friends, Lovers and Financiers” der künstlerischen Praxis so nahe kommen zu lassen, dass daraus ein Produktions- und Verwertungskreislauf entsteht, in dem unscharf wird, wer in wessen Namen agiert und aneignet. Und mehr noch, die künstlerische Produktion wird durch den spezifischen sozialen Hintergrund, der nicht mehr zwischen privat und nicht-privat unterscheidet – eine andere Kulisse der Ausstellung – geradezu inszeniert und zur Aufführung gebracht.

Im Rahmen dieser Kulissen werden neue und ältere Arbeiten, viele davon aus Werkgruppen stammend, inszeniert. So zeigt Independence eine Serie neuer Bilder, die Motive aus der Japan-Kollektion eines der berühmtesten St. Galler Textilunternehmens aufgreifen. Beginnend in den 1960er Jahren und bis vor Kurzem entwickelte die Firma für den japanischen Markt figurative Sujets, die den “typisch europäischen” Luxusgeschmack einer “Haute Bourgeoisie” darstellen – Motive, die eine Bandbreite an gestickten Szenen in Stilen von Art Déco bis zu Diors New Look wiedergeben und damit eine Nachfrage bedienten. In diesen und weiteren Arbeiten manifestiert sich das Interesse an kulturellen Übermittlungsprozessen von Stilen und Moden innerhalb einer Sphäre oder über diese hinweg, globale Wege zeichnend. Die Mechanismen der Mode, ihre schillernde Kraft der Verführung, der Sehnsucht, eine andere zu werden; die Möglichkeiten, die sie bietet, Identitäten zu verkörpern oder vorzugeben, bilden eines der zentralen Bezugssysteme für die vorgestellte Praxis. Sie handelt oft ähnlich wie die Mode, deren Logik sich zwischen dem Markt und einer nie fassbaren Irrationalität bewegt.

Ein weiterer Protagonist von Independence ist Aibo. Der silberne Roboterhund ist aktuell nur auf dem japanischen Markt per verknappendem und damit extremes Begehren auslösendem Losverfahren erhältlich und feiert in der Kunsthalle Bern somit seine europäische Premiere. “Aibo” bedeutet auf Japanisch “Partner” und steht als Abkürzung für Artificial Intelligence Robot. Aibo ist kein Spielzeug mehr wie seine erste Version Ende der 1990er Jahre, sondern eine lernfähige künstliche Intelligenz für den zeitgenössischen japanischen Haushalt.

Manche “Ereignisse” in Independence und in dieser künstlerischen Praxis generell infiltrieren (Vermarktungs-) Strategien der jüngeren und älteren Kunstgeschichte und auch aus anderen Sphären. Praxen der historischen Konzeptkunst oder der “Relationalen Ästhetik”, die die sozialen Interaktionen zwischen Publikum und Künstler*in/Kunstwerk mit Wohlfühlaktionen forcierten, werden diskret aufgegriffen.

Vor dem Hintergrund der zahlreichen Bezüge bleibt die Frage, welche Unabhängigkeit hier erklärt wird. Ist es die Unabhängigkeit von der Kunsthalle, die einen ausstellt? Vom Markt? Wenn ja, von welchem? Oder ganz allgemein von den Zwängen des in-der-Welt-Seins und ordnender, gegebenenfalls sozial geteilter Strukturen? Die Kehrseite der Unabhängigkeit ist und bleibt die Vermittlungslosigkeit, die sich Zugriffen entzieht und gleichermaßen für alle Anrufungen offen ist. Auch sie findet hier eine Kulisse.

Der/die Künstlerin dieser Ausstellung bleibt vorerst ungenannt. Besucherinnen können sich fragen, ob es sich lohnt, zur Eröffnung zu reisen, wenn unklar bleibt, wer oder was sich hinter der Einladung zu einer Ausstellung verbirgt. Für den/die Künstler*in kann es hingegen eine mögliche Freiheit bedeuten, anstelle der Vermarktung des Eigennamens die Ausstellung in den Vordergrund der Bewerbung zu rücken. Verkörpert der Name ein Versprechen oder lässt etwas Bestimmtes erwarten, so kokettiert selbstgewählte Anonymität mit der Verführung durch den Reiz des Geheimnisvollen.