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I/1 Richtungsansammlung (Pfeile), Strom, Algorithmus Adlerflug. I/2 Doppelte Fraktal- Sequenz, Impulse. II/1 Richtungsansammlung (Pfeile), Strom, 2 küssen sich – Aktionsablauf (Fibonacci-ReWrites), Doppelte Fraktal-Sequenz, Impulse. II/2 Strom, 2 küssen sich – Aktionsablauf (Fibonacci-ReWrites), Doppelte Fraktal-Sequenz, Impulse. III Richtungsansammlung (Pfeile), Strom, Algorithmus Adlerflug. IV/1 2 küssen sich – Aktionsablauf (Fibonacci-ReWrites). IV/2 2 küssen sich – Aktionsablauf (Fibonacci- ReWrites). V/1 Temperaturverlauf, Lichtbogen-Felder, Strom. V/2 Temperaturverlauf, Lichtbogen-Felder, Strom, Akustisches Impulsfeld. VI/1 Lichtbogen-Feld. VI/2 Lichtbogen- Feld, Kreis / Geometrisch / Perspektivische Momente. VII/1 Deklinationsgerüst, Richtungs-Loops, Strom. VII/2 Standpunkt / Himmelsrichtung (N, O, S, W), Windrichtung, Windstärke / Rotation doppelte akustische Impulse: Horizontale Distanz, Vertikale Distanz, Volume, Loop-Dauer, Rotationsrichtung, Rotationsgeschwindigkeit / Richtungsansammlung (Pfeile), Richtungs-Loops, Strom.

Eröffnung / Samstag, 26. April 2008, 17 bis 20 Uhr

Künstlergespräch / Sonntag, 8, Juni 2008, 16 bis 18 Uhr

Zur Ausstellung erscheinen ein Katalog und eine Edition.

kuratiert von Elke Gruhn und Katharina Klara Jung

In fein gezeichneten Diptychen mit nichts als Zahlen und prosaischen Notizen entstehen in Jorinde Voigts (*1977 Frankfurt am Main, D) geheimnisvollen Arbeiten dynamische Labyrinthe, hochkomplexe Systeme scheinbar voller Chaos und doch voller Ordnung. Es sind Modelle unfassbarer Realitäten, die sich hinter scheinbar alltäglichen Erfahrungen wie der Tagestemperatur, ein paar Takten Musik oder einem Kuss verbergen.

Voigt zeichnet Zahlen und Buchstaben in einer weder besonders stilisierten noch übertrieben klaren Handschrift. Ihre Zeichnungen, synthetische Gebilde zwischen Bild und Text, weder Illustration noch „autonome“ Zeichnungen, sind Repräsentanten einer Schriftbildlichkeit, die nicht zwingend dazu geeignet scheinen, im Sinne eines wieder erkennenden, systematischen, vollständigen Verstehens gelesen zu werden.

Über Jahre hinweg hat Jorinde Voigt in physisch extremer Konsequenz wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Beschreibungsmodi für heterogene Regionen ihrer subjektiven Wirklichkeitserfahrung zu einem Kartierungsprojekt von zeichnerischen Serien zusammengetragen, in denen Raum und Zeit utopischen Charakter erhalten und die Bedeutungsebenen sich trotz ihrer gemeinsamen Lokalisierung auf der Ebene des Blattes aneinander reiben, weil Voigt mit ihnen wissentlich nach einer Vermittlung des Unmittelbaren suchen.

Doch da ihre Notation, wie Voigt selbst es beschreibt, „sich aus Elementen zusammen[setzt], die gesellschaftlichen Symbolcharakter haben oder bestimmend für die Beschreibung der Zivilisation und deren Umgebung sind“, es sich also bei den Elementen wie auch bei den Zeichen um weit über die naturwissenschaftlich-technische Kultur hinaus Lesbare handelt, kann sie fest mit dem Aufkommen einer Assoziationsfülle rechnen.

Ob in den Zeichnungen selbst, an ihren Rändern oder in den Titeln der Arbeiten, die konkreten Referenzebenen finden vor allem über Schrift Zugang ins Gesamtbild. Durch sie stellt sich das zeichnerische Unternehmen Voigts als eine groß angelegte, mit den verschiedensten wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Visualisierungs- und Denkmodellen operierende Rekonstruktion heraus: Es geht ihr, durchaus in der Nachfolge der künstlerischen und literarischen Moderne, um die Frage nach der Übersetzbarkeit einer komplex verstandenen, zeitgenössischen Wirklichkeitserfahrung – die sich in so unterschiedlichen historischen Begriffskonstruktionen manifestiert wie der vom Alltagsleben oder vom Erlebnis.

Die einzelnen Elemente ihrer Zeichnungen für sich betrachtet sind technisch, präzise und mathematisch. Erst, wenn sie ineinander greifen und etwa eine Fibonacci-Folge eine Rotationsbewegung bei sich um 90 Grad drehenden Himmelsrichtungen beschreiben, wird klar, was diese scheinbar kryptischen, grafisch anmutigen Zeichnungen beschreiben: Den Standpunkt des Betrachters außerhalb des Bildes, der bei jedem Blick neu definiert werden muss.

Ein Überblick über die Elemente in Jorinde Voigts Zeichnungen:

Die Notation / ist von jeder Seite lesbar und verzichtet auf Linearität.

Dualität / Der Charakter eines Diptychons ist dual. Das Konzept der 7 Diptychen ist die Teilung selbst als variiertes Element zu setzen. Über die veränderte Proportion thematisiert sich Einheit, Teilung und Gegenüberstellung, Zusammenschluss, Konfrontation und Pluralismus. Gleichzeitig bestimmt die jeweilige Teilung den visuellen Rhythmus der Notation und ist Anlass zu Spiegelung und Variation der vorhandenen Proportion. In Diptychon III ist die Teilung zwar angelegt, aber nicht ausgeführt. Die Inhalte verhalten sich pluralistisch und / oder bilden Konglomerate. Jedes der formulierten Elemente ist gleichberechtigt zu den benachbarten notiert und folgt inhaltlich und formal einem eigenen Logarithmus, der gleichzeitig den irreversiblen performativen Prozess (den des Schreibens/Zeichnens) beinhaltet, dessen Resultat die konkrete Notation ist.

Richtungsansammlung (Pfeile) / Die Richtung eines Pfeils ergibt sich immer aus der Richtung der vorangegangenen und benachbarten Pfeile sowie der gedachten Richtung der Folgenden.

Richtungs-Loops / sind Einheiten wiederholter Richtungsdynamik in Form einer unendlichen Schleife.

Strom / dient kompositorisch als Zäsur und ist umgangssprachlich im Sinne von Elektronenfluss als Übertragung elektrischer Energie notiert. Die Notation nimmt das Bild von Stromleitungen oder Überlandstromleitungen auf und knüpft an das unsere Zivilisation durchziehende Stromnetz und die Abhängigkeit von ihm als integralen Bestandteil der Kultur an.

Adler / Die Notation „Adler“ umfasst die ganze Komplexität der verschiedenen Konnotationen symbolischer, mythologischer, heraldischer, biologischer Herkunft. Der Adler ist eines der beliebtesten Wappentiere, steht für Unsterblichkeit, Mut, Weitblick und Kraft. Mythologisch wurde der Adler mit Zeus, Jupiter und Odin verbunden. Insgesamt 13 Länder nutzen den Adler als nationales Symbol. Das Element Adler steht in der Zeichnung für das Phänomen eines kollektiven Gedankens und administrativer wie auch organisatorischer Vorgänge.

Algorithmus Adlerflug / Der Luftraum wird über die ineinander verwobenen Flugbahnen einer bestimmten Anzahl von Adlern beschrieben. Zwei mögliche Flugrichtungen sind zeitlich parallel formuliert. Die Positionen sind numerisch vermerkt. Bei jedem Schritt wechselt die Verortung auf dem zu Grunde liegenden Bogen (Halbkreis). Bei einem Start mit 100 Adlern teilt sich die Formation im zweiten Schritt in 2 Formationen, etwa zu 10 und 90 Adlern, im dritten Schritt zu 30 und 70, im vierten zu Schritt: 40 und 60, bis sich die Formation wieder in die erste Anordnung weiterentwickelt hat.

Doppelte Fraktal-Sequenz / Impulse / Diese Sequenzen bestehen aus einer inneren von oben nach unten gezählten Kette und zu beiden Seiten einer fraktalen Kette, die links von oben nach unten, rechts von unten nach oben entgegen gezählt ist. Diese Zahlenreihen beinhalten immer die gesamte vorangegangene Kette und verweisen durch ihre innere Logik gleichzeitig auf das Nächste. Die geometrischen Schnittpunkte entlang der Zahlenreihe bilden ein Gerüst, entlang dessen elektrische Impulse notiert sind. Das Gerüst ergibt eine Vielzahl von Möglichkeiten von A nach B zu kommen. Der gezeichnete Weg ist immer nur ein spontaner, möglicher Weg, wie sich ein elektrischer Impuls fortpflanzen könnte. Überlagern sich mehrere Wege, ergibt sich ein Feld an Punkten.

Elektrische Impulse / Entlang der doppelten Fraktal-Sequenz ist eine Geometrie ausgeführt, deren Interferenz der Linien die Punkte für „elektrische Impulse“ bildet. Die nummerierten Punkte sind teilweise als „Impuls“ deklariert. Die Impulsfeldbildung lehnt sich an den Gedanken an, dass sich ein Impuls an benachbarte Punkte fortsetzt bzw. von der Umgebung wiederholt wird bzw. auf diese überspringt; ähnlich wie bei der Bildung des Herzens.

2 küssen sich – Aktionsablauf / Die Aktionsmuster von „2 küssen sich“ sind als unendliche oder endliche Aktion notiert. Unendliche Aktion (2 küssen sich) / Die als unendliche Aktion notierten Folgen basieren auf der Fibonacci-Folge, bei der für die beiden ersten Zahlen die Werte null und eins vorgegeben werden und sich jede weitere Zahl aus der Summe ihrer beiden Vorgänger ergibt. In der Zeichnung setzt sich die Fibonacci-Folge aus Dauer (des Kusses), zeitlicher und/oder räumlicher Distanz (der vorangegangenen Aktion zur nächsten) und Menge (der sich küssenden Paare) zusammen, wobei Distanz und Menge kongruent sind.

Endliche Aktion (2 küssen sich) / Bei endlichen Aktionsmustern werden Zahlenreihen gegeneinander gezählt. Die Übersetzung in das Aktionsmuster formuliert sich wie folgt: 2 küssen sich für 10 min. (Dauer): nach 1 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 9 min. (Dauer): nach 2 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 8 min. (Dauer): nach 3 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 7 min. (Dauer): nach 4 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 6 min. (Dauer): nach 5 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 5 min. (Dauer): nach 6 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 4 min. (Dauer): nach 7 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 3 min. (Dauer): nach 8 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 2 min. (Dauer): nach 9 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 1 min. (Dauer): nach 10 min. (Zeitabstand=Menge der Paare). 2 küssen sich für 0 min. (Dauer).

Also überhaupt nicht. Fibonacci –ReWrites / sind klassische Rewrite-Anwendungen: Ein Zahlenwert wird durch einen anderen ersetzt. Diese gesetzte „Störung“ verändert sofort das visuelle Erscheinungsbild und die inhaltliche Formulierung.

Temperaturverlauf / Der sich ausbreitende Verlauf ist in einer Struktur notiert, die der nächst liegenden Verknüpfungsmethode von mehreren Punkten zum Erreichen von Stabilität entspricht. Der Verlauf enthält Drehmomente und eine horizontale Ausrichtung. Das sich ergebende „Netz“ ist Veränderungen unterworfen; der Temperaturverlauf beschreibt durch die Veränderung in seiner Form den Raum, den er durchzieht, als heterogen. Die Grad-Angaben changieren entlang der durchschnittlichen Körpertemperatur.

Lichtbögen / Das Element ist ein Phänomen aus dem Bereich der Elektrotechnik, das seine erste technische Anwendung in der Beleuchtungstechnik um 1800 fand. Das Phänomen wurde an zwei Kohlestiften beobachtet, die jeweils mit einem Pol einer Voltaschen Säule verbunden waren. Die beiden Kohlestifte berührten sich zuerst, wurden aber mit Beginn des Stromflusses auseinander gezogen und ein brennendes Licht erschien in einem charakteristischen Bogen zwischen ihnen. In den Notationen besteht das grafische Zeichen für Lichtbogen aus einer gebogenen Linie, die an beiden Enden eine Pfeilspitze aufweist. Dadurch wird eine Bewegung des Zeichens in beide Richtungen evoziert. Jeder einzelne Bogen ist schriftlich als Lichtbogen markiert.

Kreis / Geometrie / Perspektivische Momente / Die Rhythmus bildenden Grundformen sind Kreis, Zäsur (siehe „Strom“), Proportion. Durch Deklination der Parameter wie Größe, räumliche Anordnung, Teilung, etc ergibt sich jede denkbare Variation in Form und Anordnung. Deklinationsgerüst / Das Deklinationsgerüst macht in Form einer Tabelle die Deklinationsmuster sichtbar. Die Deklination bezieht sich in diesem Fall auf horizontale und vertikale Distanz in Metern, Geschwindigkeit in Umdrehungen/min, Lautstärke (Volume) in %, Dauer eines geloopten Segments in Minuten, Richtungswechsel eines rotierenden Elements (rechts- oder linksdrehend). Die Deklination macht konsequent die Möglichkeiten innerhalb eines gesetzten Rahmens sichtbar. Meistens bezieht sich die Variation auf eine Situation, die dann in der Gesamtheit ihrer Möglichkeiten aufgefächert wird, sich dabei aber auch überlagert und den komplexen Moment der Gleichzeitigkeit sichtbar macht. Standpunkt / Verschiedene Positionen bezeichnen den aktuellen Standpunkt des Betrachters wie eine vielfache Auffächerung des Jetzt. Zentral ist immer der Standpunkt des Betrachters. Himmelsrichtung (N,O,S,W) / Durch die Neuanordnung der Himmelsrichtung wird der Betrachter zur aktiven Positionierung im Raum und in der Gegenwart aufgefordert. Die Himmelsrichtungen sind die vier auf die Erdachse bezogenen Haupthimmelsrichtung Norden, Osten, Süden, Westen. Vom Standpunkt ausgehend ist in jedem Blatt die gegenwärtige Ausrichtung zur Achse durch Benennung der Himmelsrichtungen neu festgelegt. Der Wechsel der Himmelsrichtungen erfolgt meist über eine Rotation der Nordrichtung um 90 Grad.

Akustische Impulse / Impuls-Feld / Der Akustische Impuls bezeichnet die Vorstufe (den Nukleus) von oder den Anlass für Musik. Die Impulse sind teilweise als ein den imaginären Raum strukturierendes Feld notiert. Rotation doppelte akustische Impulse (Horizontale Distanz, Vertikale Distanz, Volume, Loop-Dauer, Rotationsrichtung, Rotationsgeschwindigkeit) / Der akustische Impuls (kleinstes akustisches Ereignis oder Nukleus von Musik) ist als Loop, also als nie endendes Geräusch notiert. Das Volume entspricht einer Deklination des Anfangs- und Endwertes in 1-er Einheiten. Eine andere eigenständige Deklinationsrichtung gilt für die jeweilige Dauer des akustischen Impulses. Der akustische Impuls ist zweifach mit jeweils eigenständigem Volume und eigenständiger Dauer notiert. Der Mittelpunkt des Elements „doppelter akustischer Impuls“ ist eine Spiegelung. In horizontal und vertikal variierendem Abstand zum Zentrum (dem Betrachter) umkreisen immer 2 akustische Impulse gleichzeitig auf einer bestimmten Umlaufbahn den Betrachter. Da Dauer und Lautstärke der akustischen Impulse nie gleich sind und jeder einzelne akustische Impuls als Loop notiert ist, bildet sich jedes Mal eine individuelle rhythmische Interferenz. Dieser rhythmischen Abfolge (Doppelter Akustischer Impuls) ist eine spezifische Umlaufbahn zugeordnet und eine bestimmte Geschwindigkeit, mit der dieser Rhythmus auf seiner Umlaufbahn kreist. Durch diese Anordnung wird Raum durch die Vibration eines akustischen Interferenz-Apparates und Bewegung abgetastet.

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Jorinde Voigt
DUAL
Kuratoren: Elke Gruhn, Katharina Klara Jung