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Ein 1888 begonnenes Bauprojekt bildet den Ausgangspunkt der Lecture Performance „harmless entrepreneurs“ (Harmlose Unternehmer) der Künstlerin Judith Raum (*1977, lebt in Berlin). Die Anatolische Eisenbahn, später die Bagdad-Bahn, sollte über 2500 km hinweg die Metropolen Konstantinopel und Bagdad miteinander verbinden. Das Deutsche Reich versprach sich finanziellen Gewinn und militärstrategische Vorteile, daher bewegte es die Deutsche Bank zur Finanzierung des Projekts. Diese willigte schließlich ein (es wurde befürchtet, dass das Projekt nicht rentabel und eher dem „Club der Harmlosen“, wie es der damalige Vorstandsvorsitzende Georg von Siemens formulierte, zuzuordnen sei), deutsche Maschinenbauer und Ingenieure waren federführend bei der Umsetzung. Das Großprojekt war aufwendig und teuer, daher war stets die Rentabilität der Bahn und aller neugeschaffener Strukturen oberstes Ziel. Die erzielten Erfolge und Profite stehen im Gegensatz zu Missachtung und Ausbeutung an andere r Stelle – ermöglicht wurde der Bau der Bahn durch die massenhafte Beschäftigung von billigen einheimischen Arbeitskräften. Ebenso wurden die im Deutschen Reich in Heimarbeit hergestellten Waren, die millionenfach in die neuen Märkte im Nahen Osten exportiert werden sollten, in von Provisorien und Kargheit geprägten Verhältnissen produziert. Seit 2009 beschäftigt Judith Raum sich mit dem Bau der Bagdadbahn. Ihre erstmals 2011 präsentierte Lecture Performance zeigt sie in Hildesheim in einer neuen Fassung. In deutschen, türkischen und britischen Archiven sammelte sie Materialien, welche die deutschen Anstrengungen zur Durchführung des Projekts und der Sicherung langfristiger Wirtschaftlichkeit der getätigten Investitionen dokumentieren. Koloniale Bestrebungen zeigen sich hier weniger in der Aneignung von Land als vielmehr in der Etablierung von Handelsstrukturen und Verfahrensweisen. Der Fokus auf die Personen hinter den Institutionen und Arbeitsschritten zeigt unterschiedliche Formen des Unternehmertums - geprägt von Macht, Verfügungsgewalt und Profitorientierung, aber auch Widerständigkeit und Improvisationsgabe.

In ihrer Lecture Performance verfolgt Judith Raum diese verschiedenen Stränge und ihre historischen Verästelungen. Die sprachliche Ebene der Performance präsentiert in Form eines Vortrags Zitate aus Briefen der Zeit, geschichtliche Hintergründe und theoretische Überlegungen. In Form einer temporären Installation und unter Verwendung von Stahl, bedruckten Stoffen und Militärärmeln übersetzt Judith Raum die gefundenen Informationen in Material, vollzieht Handlungen nach, deutet an, spekuliert. Im Umgang mit den Dingen kristallisieren Interessen, Notwendigkeiten und Abwegigkeiten. In den Funktionen der Historikerin, Theoretikerin und Künstlerin spielt Judith Raum verschiedene Ausdrucksformen, Annäherungen und Erschließungswege durch – und vollzieht diese im Verlauf der Performance vor Publikum.

Judith Raum (*1977, lebt in Berlin) Ausstellungen/Performances (Auswahl): Heidelberger Kunstverein (Mai 2014), Haus der Kulturen der Welt (2013), Gorki Theater Berlin (2013), Steirischer Herbst, Graz (2012), Ludlow 38, New York (2010) Frankfurter Kunstverein (2008).

Zur Reihe "Von den Dingen" Das Jahresprogramm des Kunstvereins Hildesheim stand im Jahr 2013 unter dem Titel "Von den Dingen". Der Umgang mit Dingen gibt Auskunft über Mangel und Überfluss, Wünsche und Bedürfnisse, über Traditionen, Disziplin und Innovation. Aus der Distanz betrachtet erscheinen Dinge nicht mehr selbstverständlich, sondern voller Geheimnisse, Spuren, Informationen für den, der sie zu lesen vermag. Wo und unter welchen Bedingungen wurde etwas hergestellt? Warum hat das Ding eben diese Form und keine andere? Für als Kunstwerke eingestufte Dinge, die in der Regel betrachtet, aber nicht berührt werden sollen, ohne praktischen Zweck sind, stellt sich neben der Frage ihrer Gestaltung auch diejenige ihrer Interpretation: Wie „lesen“ wir das Ding? In welchen Zusammenhängen mit anderen Dingen, Geschichten und Ideen können wir es verstehen? Wie hängen wir mit den Dingen zusammen und von ihnen ab, emotional und funktional? Welche Geschichten schlagen sich in ihnen nieder?

Zu Entzifferungsunternehmungen und Betrachtungen dieser Fragen lädt der Kunstverein Hildesheim mit der Reihe "Von den Dingen", welche das Jahresprogramm 2013 abschließt. Die Lecture Performance "harmless entrepreneurs" von Judith Raum (19.01.), eine Filmvorführung unter dem Titel "No Thing is My King" (20.01.), die Intervention "Move and Scale (cancel set)" im Roemer- und Pelizaeus-Museum von Hella Gerlach (26.01.) und ein Künstlervortrag von Peter Wächtler (1.02.) stehen hier auf dem Programm. Details unter www.kunstverein-hildesheim.de.

Das Projekt "Von den Dingen" wird gefördert durch das Land Niedersachsen und die Stadt Hildesheim. Das Vermittlungsprogramm des Kunstvereins Hildesheim wird gefördert durch das Land Niedersachsen und die VGH-Stiftung. Wir danken dem Theaterhaus Hildesheim für die Zusammenarbeit im Rahmen von Judith Raums Lecture Performance.

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Judith Raum. harmless entrepreneurs

Künstler:
Judith Raum

Kuratoren:
Kathrin Meyer