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Ich möchte das Gefühl vermitteln, man bewege sich durch die Zeit, durch verschiedene Epochen. Meine Arbeiten sind wie Reisen an einen anderen Ort, in eine andere Zeit. Wir reisen, aber die Landschaft trägt Geschichten in sich und man kann sehen, dass es sich immer um denselben Ort handelt. Es ist wie bei einem Diorama: Man macht eine Reise, aber es ist immer dieselbe Aussicht, derselbe Ort. — Lee Bul

Lee Bul, eine der bedeutendsten koreanischen Künstler*innen ihrer Generation, hat für ihr formal erfinderisches und intellektuell provokantes Werk große internationale Anerkennung erfahren. Vom 29. September 2018 bis 13. Januar 2019 zeigt der Gropius Bau mit Crash ihre erste Einzelausstellung in Deutschland. Die umfassende Werkschau ist die erste von Stephanie Rosenthal kuratierte Ausstellung als neue Direktorin des Gropius Bau.

Lee Buls vielfältiges Schaffen zwischen Performance- und Installationskunst erforscht Träume, Ideale und Utopien, die von futuristischen Theorien und Science-Fiction, Bioengineering und visionärer Architektur beeinflusst sind. Crash ist eine Ausstellung, die als Erlebnisparcours die Besucher*innen in ihren Bann zieht und mit experimentellen Ausstellungsstücken begeistert. Lee Buls raumgreifende Inszenierungen und Landschaften experimentieren mit außergewöhnlichen Materialien wie Perlmutt, Kristallen, Leder oder Samt und zeigen fantasievolle Topographien utopischer Sehnsüchte. Neben der sinnlichen Erfahrbarkeit und dem Humor ihrer Werke sind Lee Buls Arbeiten auch von ihren persönlichen Erfahrungen und subtilen Anspielungen auf die Geschichte und Politik Koreas geprägt. Während ihres nunmehr 30-jährigen künstlerischen Schaffens hat Lee Bul die Entwicklung Südkoreas von einer Militärdiktatur zur Demokratie in ständiger Konfrontation mit dem nur wenige Kilometer entfernten Nordkorea miterlebt. Ihre Arbeiten zeugen von einer intensiven Reflexion historischer und politischer Diskurse, den Herausforderungen von Globalisierung und technischem Fortschritt, aber auch von dem Streben nach Idealen menschlicher und gesellschaftlicher Vollkommenheit und deren potentiellem Scheitern.

Der Gropius Bau: Ort und Inspiration

Die Ausstellung Crash ist Ausdruck Lee Buls umfangreicher Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit von Körpern, wie diese unsere Erfahrung der Welt definieren und Gefühle von Grenzerfahrungen hervorrufen können. Die Werkschau gliedert sich entlang der thematischen Schwerpunkte ihres Werks, wobei die chronologische Anordnung innerhalb der einzelnen Sektionen es ermöglicht, die Entwicklung ihres Schaffens nachzuvollziehen. Crash zeigt Dokumentationen von frühen Performances, skulpturale Arbeiten aus Serien wie Monster und Cyborg, zentrale Werke ihrer utopisch inspirierten Skulpturen, neuere immersive Installationen, Zeichnungen und Gemälde sowie ihre neueste Arbeit Scale of Tongue.

Der Gropius Bau ist nicht nur Ort, sondern auch Inspiration für die Ausstellung Crash. In der Nachkriegszeit wurde die Berliner Mauer direkt entlang der Nordseite des Gebäudes errichtet, sodass der Gropius Bau in unmittelbarer Nähe zum Grenzübergang und inmitten politischer Brennpunkte lag. Eingebettet in die Geschichte des Gebäudes, beleuchtet die Ausstellung Crash nicht nur den Einfluss, den die Teilung Koreas und die Zeit der Diktatur auf Lee Buls Schaffen hatten, sondern auch, wie emotionale Topografien in utopischen architektonischen Visionen widergespiegelt werden. Skulpturale Arbeiten wie Infinite Starburst of Your Cold Dark Eyes im Foyer und Willing To Be Vulnerable – Transparent Balloon im bisher selten bespielten Südtreppenhaus des Gropius Bau gehen eine unmittelbare Beziehung mit dem Gebäude ein und versinnbildlichen die Öffnung des Hauses.

Viele Arbeiten von Lee Bul enthalten subtile Anspielungen auf die Geschichte und Politik Koreas. Ihr Standpunkt ist dabei zutiefst persönlich und zugleich nach außen gerichtet. Lee Bul möchte die Unterdrückung, den körperlichen Schmerz, die Taubheit und Verletzlichkeit zum Ausdruck bringen, welche die Zeiten geprägt haben, die sie selbst erlebt hat. Die Ausstellung macht auch die Parallelen der deutschen und der koreanischen Geschichte sichtbar. Von einem historischen Blickpunkt aus betrachtet, teilen beide Länder Gemeinsamkeiten, insbesondere hinsichtlich ihrer Teilung, des damit einhergehenden nationalen Traumas sowie der Frage nach einer Wiedervereinigung.

Lee Buls künstlerischer Werdegang

Lee Bul, 1964 in Südkorea geboren, wuchs als Tochter zweier Aktivisten in einem politisch engagierten Umfeld inmitten turbulenter gesellschaftlicher Veränderungen auf. Die 1980er und 1990er Jahre in Südkorea waren eine Phase des Übergangs von der Militärdiktatur zur Demokratie und der Entwicklung in Bezug auf Modernisierung und wirtschaftliche Stärke. Nach ihrem Abschluss im Fach Bildhauerei an der Hongik Universität, Seoul, im Jahr 1987 verlagerte Lee Bul ihre künstlerische Praxis mit Performances aus dem Studio in den öffentlichen Raum. Mit diesen Arbeiten hinterfragte sie das Verständnis „weiblicher“ Schönheit sowie die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Sie widersetzte sich den gängigen künstlerischen Konventionen, indem sie etwa bei Cravings (1989) monströse Formen aus weichem Stoff trug, aus denen tentakelartige Gliedmaßen herauswuchsen. Während der Performance Abortion (1989) hing sie fast zwei Stunden nackt und kopfüber, in ein Korsett eingeschnürt, und verwies auf das Elend der Durchführung einer – in Korea nach wie vor illegalen – Abtreibung.

Als Lee Bul Mitte der 1990er Jahre mit ihrer bekannten Serie Cyborg (1997–2011) begann, wandte sie sich weitgehend von Performance-Arbeiten ab und erforschte mittels dreidimensionaler skulpturaler Arbeiten das Streben nach Perfektion durch die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Die Posen der weiblichen Cyborgs erinnern an ikonische klassische Skulpturen wie die Venus von Milo, während ihre üppigen Proportionen typisch für die Darstellung westlicher Frauen in sexuell aufgeladenen japanischen Comics und Zeichentrickfilmen sind. Jeder Körper in dieser Serie ist jedoch in gewisser Weise unvollständig. Die fehlenden Köpfe oder Gliedmaßen deuten darauf hin, dass diese „perfekten“ Figuren noch in der Transformation begriffen sind. In Lee Buls späteren Arbeiten nimmt der Cyborg dunklere und komplexere Ausformungen an und verweist auf surrealistische Vorbilder. Diese extravaganten Hybriden aus lebendem Organismus und Maschine werden von Lee Bul als „anagrammatische Morphologien“ bezeichnet. Ihre Gemälde und Wandarbeiten aus Seide, Leder und Perlmutt wie Untitled (Silk Painting – Yellow), Untitled (Silk Painting – Black), Untitled (Mekamelencolia – Yellow velvet #1) und Untitled (Willing To Be Vulnerable – Velvet #6 DDRG24OC) werden erstmals in dieser Ausstellung gezeigt und zeugen von ihrem tiefen und langjährigen Interesse am Experimentieren mit organischen Materialien.

Lee Buls Auseinandersetzung mit Körpern führte unmittelbar zu ihrer Erforschung von Modellen utopischer Stadtlandschaften. 2005 begann sie Modelle zu entwerfen, die von modernistischen architektonischen Entwürfen inspiriert sind. Diese komplexen Skulpturen und verwandte Arbeiten auf Papier und Leinwand bilden eine fantasievolle Topographie utopischer Sehnsüchte und Misserfolge. Diese Topographien erscheinen wie ein Nach-außen-Stülpen früherer Arbeiten und werden zu einer Metapher für das vernetzte unterirdische Wurzelsystem unserer Städte, aber auch für Gesellschaften mit ihren utopischen Ideen. Lee Buls Visionen für eine ideale Gesellschaft sind unter anderem von den architektonischen Fantasien des deutschen Architekten Bruno Taut inspiriert, nicht zuletzt von seiner Alpinen Architektur (1919), in der Gebäude an riesige Bergketten erinnern. Es ist Lee Buls Interesse am Streben nach Perfektion, das diese visionären Landschaften mit ihren früheren Arbeiten verbindet.

Lee Buls spätere Arbeiten verweisen auf vielfältige kulturelle und intellektuelle Referenzen, von der Kritischen Theorie bis hin zu den dystopischen Traumwelten spekulativer Romane und Filme. Ihr Werk entwickelt sich von großformatigen Kompositionen wie Mon grand récit: Weep into stones …(2005), wo sie verschiedene utopische architektonische Visionen kollidieren lässt, hin zu immersiven Installationen, die unsere Wahrnehmung insbesondere durch den Einsatz von Spiegeln verändern. Ihre raumgreifenden Landschaften lassen sich als Mittler zwischen Architektur und Körper beschreiben und können vielfältige Formationen annehmen: utopische Stadtlandschaften und Kartografien; Texturen und Oberflächenstrukturen wie die unserer Haut; Verkörperungen der unablässigen Suche nach einem idealen Ort. Bunker (M. Bakhtin) (2007/2012), ein schwarzer felsiger Berg mit einem höhlenartigen Inneren, das durch eine große Spalte betreten werden kann, versetzt uns in eine verwirrende Geräuschkulisse, während die labyrinthischen Arbeiten Via Negativa (2012) und Via Negativa II (2014) unser Raumgefühl durch stark reflektierende Oberflächen unterbrechen und verstören. Die in der gesamten Ausstellung zu sehenden Zeichnungen geben Einblick in Lee Buls künstlerische Praxis und beleuchten die Entwicklung ihrer dreidimensionalen Arbeiten sowie das Ineinanderfließen der verschiedenen Stränge ihres Werks. Willing To Be Vulnerable – Metalized Balloon (2015–16) ist eine 17 Meter lange Skulptur, die an den Zeppelin Hindenburg erinnert und auf dessen Absturz im Jahr 1937 Bezug nimmt. Die Arbeit ist gleichermaßen ehrgeizig wie optimistisch und spiegelt technisches Versagen, Zertrümmerung und Zerstörung aber auch die Anspannung, die allen Versuchen des utopischen Idealismus zugrunde liegt. Lee Buls neueste Arbeit Scale of Tongue war ursprünglich als transportable Architektur gedacht und erinnert an den Rumpf eines Bootes, eine improvisierte Unterkunft oder eine bergige Landschaft, die subtil auf das Fährunglück der „Sewol“ vom 16. April 2014 verweist. Die Anspielung auf die „Sewol“ fungiert als unsichtbare Struktur, die die Arbeit von innen heraus zusammenhält. Deutlich wird sie nur beim Anblick des Bootes, wie es sich langsam in abstrakte Formen auflöst und eins wird mit der Formation der umgebenden Landschaft.

Eine Ausstellung der Hayward Gallery, London in Zusammenarbeit mit dem Gropius Bau, kuratiert von Stephanie Rosenthal. Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds, mit freundlicher Unterstützung der Korea Foundation und des Arts Council Korea.