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Für welchen Werkstoff entscheidet sich ein Künstler und aus welchen Gründen? Die internationale Gruppenausstellung Living in the Material World untersucht die Rolle des Materials in der zeitgenössischen Kunst. Sie vereint wichtige Positionen der Gegenwartskunst, darunter mit Theaster Gates einen Teilnehmer der dOCUMENTA (13) 2012 in Kassel sowie mit Lara Almarcegui, Karla Black, Jessica Jackson Hutchins und Oscar Tuazon Teilnehmer der letzten beiden Biennalen von Venedig.

In den 1960er-Jahren hatte sich der Kunstbegriff aufgrund der Befragung und Neubewertung von unterschiedlichen Materialien radikal erweitert. Erstmals kam dem Material eine Vorrangstellung gegenüber der Form zu. Nachdem die Konzeptkunst in den 1970er-Jahren die Aufmerksamkeit verstärkt auf das Wort und schriftliche wie bildliche Dokumente als Ausdrucksmittel gerichtet hatte, wandten sich in den 1980er-Jahren junge Künstler erneut der Balance von Material und Form zu. Durch die Möglichkeiten der digitalen Technik verlor der konkrete Werkstoff Ende des 20. Jahrhunderts jedoch vorübergehend an Bedeutung.

Der Aspekt der Materialität stellt für eine junge Generation von Künstlerinnen und Künstlern heute wieder ein Schlüsselkonzept dar. Vor dem Hintergrund aktueller gesell­schaft­licher und kultureller Entwicklungen wird er gegenüber der Kunst früherer Jahrzehnte weitergedacht und transformiert. Der künstlerische Umgang mit Materialien in einem gesellschaftlichen Klima, in dem Aspekte wie das Selbermachen, das Wiederverwerten mit ästhetischem Anspruch und Möglichkeiten zur individuellen Produktgestaltung zunehmend an Bedeutung gewinnen, erlaubt Rückschlüsse auf die Wertigkeit und Bedeutung von Materialität in der heutigen Zeit, nicht nur im Kontext der bildenden Kunst.

Die zwölf eingeladenen Künstlerinnen und Künstler setzen sich mit den Eigenschaften und dem erzählerischen Potenzial von so unterschiedlichen Materialien wie Stoff, Beton, Holz, Keramik, Glas, Kunststoff oder Papier auseinander. Galt es in den 1960er-Jahren noch, zuvor als kunstfern geltende alltägliche, beiläufige Materialien überhaupt erst für die bildende Kunst zu erobern und sich damit gegen überkommene Materialhierarchien und kunsthistorische Konventionen zu stemmen, löst heute ein solches Repertoire an bildnerischen Mitteln keine Aufregung mehr aus. Die Materialien, die zum Einsatz kommen, sind vertraut – auch in ihrer Präsenz im Ausstellungsraum. Die künstlerische Aufmerksamkeit richtet sich weniger darauf, neue Werkstoffe zu entdecken, als vielmehr darauf, die bekannten Materialien umzuwidmen, ihnen eine neue Funktion zu verleihen.

Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung Living in the Material World knüp­fen an handwerkliche Traditionen und industrielle Produktionsweisen an, befassen sich mit Recycling und Do-it-yourself, widmen sich der materiellen Analyse und Rekonstruktion von spezi­fischen Orten und Gegenständen oder entwickeln fragile architektonische Konstruktionen.

Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung

Lara Almarcegui (*1972 in Saragossa, lebt und arbeitet in Rotterdam) beschäftigt sich in ihren Wer­ken mit Material als Repräsentant für unsere gebaute urbane Umwelt. Mithilfe analytischer Bestands­auf­nahmen zerlegt sie Bauwerke in ihre materiellen Bestandteile. In der Galerie im Taxispalais zeigt sie eine eigens geschaf­fe­ne Arbeit in Form eines Wand­­textes, der die für den Bau der Räume verwen­de­ten Materialien mit Angabe ihres jeweiligen Gewichts auflistet. So entsteht ein Span­nungsfeld zwi­schen dem erfahrbaren architektonischen Raum und der begrifflichen und quantitativen Benen­nung der Baustoffe, die bei aller Detailliertheit für den Besucher letztlich abstrakt bleibt.

Michael Beutler (*1976 in Oldenburg, lebt und arbeitet in Berlin) macht Produktionsabläufe sichtbar, indem er eigene Maschinen konstruiert, die billige und teils recycelte Materialien wie Pappen, Bleche, Folien, Stoff­reste oder Altpapier zu skulpturalen Gebilden formen. Indem die Maschinen und ihre Er­zeug­­nis­se im Ausstellungsraum gleichwertig nebeneinander stehen, verweisen sie sowohl auf den schöpferi­schen als auch den handwerklichen Herstellungsprozess sowie auf deren gegen­seitige Be­dingt­heit. Zu­gleich reflektiert Beutler mit dieser künstlerischen Strategie die industrielle Produktion an sich.

Die pastellfarbenen, raumgreifenden Skulpturen von Karla Black (*1972 in Alexandria/Schottland, lebt und arbeitet in Glasgow) hängen von der Decke oder breiten sich auf dem Boden aus und wirken ebenso künstlich wie kindlich, so ab­stoßend wie verlockend. Sie verwendet Materialien wie Bastel­papiere, Pastellkreiden, Lid­schatten, Lippenstift oder Ge­sichtspuder, wobei die Kosmetika nicht wegen ihrer Konnotationen von Weib­lichkeit zum Einsatz kommen, sondern we­gen ihrer haptischen Qualität. Was so leicht, fragil und zufällig wirkt, entsteht in einem sehr präzisen Arbeitsprozess zwi­schen Kon­struktion und Destruktion.

Berta Fischer (*1973 in Düsseldorf, lebt und arbeitet in Berlin) fertigt aus Acrylglas bunte plastische Ge­bilde, die in ihrer expressiven Dynamik wie Kristallisationen komplexer Bewegungsabläufe wirken. Aus­­­gangspunkt sind industriell vorge­fertigte, farbig-transparente Acrylglasplatten, aus denen sie For­men lasert, die sie anschließend unter Hitzeeinwirkung zu abstrakten polymorphen Gebilden model­liert. Die räumliche Dimension der Werke wird durch die stark licht­re­flek­tie­renden Schnittkanten der Acryl­gläser erweitert, die als leuchtende Zeichnungen hervortreten und den plastischen Körper um das Motiv der Linie bereichern. Die Lichtsituation und der Betrachterstandpunkt gestalten in ihrer Ver­än­derlichkeit das Erscheinungsbild der Objekte mit und immer wieder neu.

Ausgebildet als Keramiker, Städteplaner und Religionswissenschaftler, hat sich Theaster Gates (*1973 in Chicago, lebt und arbeitet in Chicago) einer künstlerischen Praxis verschrieben, die die Gesellschaft nicht bloß analysiert, sondern die direkt in soziale und gesellschaftspolitische Prozesse eingreift. Seine Skulpturen und Objekte stehen immer im Kontext seines speziellen partizipatorischen Kunst- und Werkbegriffs. Verführen sie zunächst durch ihre Materialästhetik, so erweisen sie sich als Türöffner für kulturelle Räume und Situationen. Oft verwendet er gebrauchte, weggeworfene Ma­terialien, wobei es ihm nicht nur um den Verweis auf deren Wiederverwertbarkeit geht, sondern auch darum, dass sie Träger von Geschichte und Wissen sind.

Die Arbeit von Ane Mette Hol (*1979 in Bodø, lebt und arbeitet in Oslo) kreist um das Verhältnis von Original und Reproduktion. Viele ihrer Werke sehen aus wie gebrauchte oder zufällig abgestellte Ar­beitsmaterialien. Erst ein genaues Hinsehen lässt erkennen, dass das benutzte Stück Abdeckpapier oder die Verpackung in Wirklichkeit minutiös von Hand gefertigte und zu dreidimensionalen Objekten ge­formte Zeichnungen sind. Mit der Auf- und Umwertung nebensächlicher Gegenstände in einem zeit­aufwändigen Reproduktionsprozess wirft Hol Fragen auf, die mit den Systemen der Kunst wie der Konsumkultur verknüpft sind: Wie werden Werte generiert? In welcher Beziehung stehen Original und Reproduktion? Auf welchen Me­cha­nis­men und Kon­ven­tionen basiert unsere Wahrnehmung?

Jessica Jackson Hutchins (*1971 in Chicago, lebt und arbeitet in Portland/Oregon) versteht den Prozess, das Material und das Objekt als Teile eines Interpretationssystems, das sie dem Betrachter anbietet. Wenn sie die Materialien für eine Arbeit aus­wählt, versucht sie, alle potenziellen Geschichten und Be­deu­­tungen, die sie verkörpern könnten, in Betracht zu zie­hen. Gefundene Möbelstücke und Ge­brauchs­­gegenstände stehen im Dialog mit organisch-abstrakten Formen, sodass sich Eigen­schaften wie weich und hart, rau und glatt, schwer und leicht, matt und glänzend unmittelbar ge­ge­nüberstehen. Oft nimmt sie Bezug auf die ursprüngliche Funktion der verwendeten All­tags­gegen­stände und überspitzt sie, indem sie zum Beispiel in der Arbeit Venus (2013) ein durchgesägtes Sofa zum Sockel umfunktioniert.

David Jablonowski (*1982 in Bochum, lebt und arbeitet in Amsterdam) erforscht mit seinen Objekten, Arrangements und Installationen Erscheinungen des Skulpturalen aus Sicht von Material und Ma­terialität als Informationsträger. Die Fragen, was die tech­no­logischen Inno­vationen und neuen Trends der Materialentwicklung aus skulpturaler Sicht be­deuten und welche neuen ästhe­tischen Formen und Kommunikationspotenziale sie für die künstlerische Aus­ein­ander­setzung bereit­stellen, sind wesent­liche Aspekte seiner Arbeit. Er verfolgt in ihr den Wandel einer Ästhetik des Skulpturalen über die Zeiten hinweg, die sich mit zunehmender Tendenz vom Festen, Volumi­nösen, Dauerhaften und Ana­logen zum Flüchtigen, Oberflächenhaften, Immateriellen und Digitalen hin entwickelt.

Markus Karstieß (*1971 in Haan/Rheinland, lebt und arbeitet in Düsseldorf) sucht in seiner Arbeit mit Ton gezielt die Nähe zu handwerklichen Praktiken, die auf eine jahrtausendealte Tradition zurück­blicken können. Für die Installation Boxes (2013/14) hat er mehrere noch ungebrannte Ton­kästen mit Gla­surresten, Glasscherben oder Abfällen von Partys und aus dem Haushalt gefüllt. Der an­schließende Brennvorgang hat im Material Reaktionen ausgelöst, die nur bis zu einem gewissen Maß über die Temperatureinstellung kontrollierbar waren. Die so entstandenen Objekte geben den Blick auf eine alche­mi­s­tisch anmutende Metamorphose frei: glänzende und raue Oberflächen, changie­rende Farben, Ein­schlüsse und Auf­brü­che, transparente und opake Schichten bilden die Moment­auf­nahme einer Ma­terial­verwandlung.

Alicja Kwade (*1979 in Kattowitz, lebt und arbeitet in Berlin) setzt sich in ihren Werken damit auseinander, wie Materialien durch ihre Nutzung kulturell besetzt sind. Sie will dabei dem Material keine neue Bedeutung verleihen, son­dern die gegebene Symbolik verdeutlichen oder durch einen ungewohnten Kontext brechen und so die Erwartungs­haltung des Betrachters gegenüber den Ma­terialien unserer Umwelt verstärken oder hinter­fragen. Oft geht es dabei, wie in der Arbeit Annahme falscher Eigenschaften (2012), um die Frage, wie Werte ge­neriert werden. Zwei Briketts – eines aus Kohle, das andere in Gold gefasst – liegen nebeneinander auf einem Sockel unter einer Glashaube. Eine Glas­schei­be zwischen beiden Objekten erzeugt Spiegelungen, die das Bild des jeweiligen Briketts auf sein Gegenüber reflek­tieren.

Marie Lunds (*1976 in Kopenhagen, lebt und arbeitet in London) Interesse an den materiellen Ei­genschaften alltäglicher Gegenstände ist ein zentraler Aspekt ihrer Arbeit. Sie manipuliert, verändert und arrangiert gefun­dene Objekte so, dass in ihnen Formen und Eigenschaften sichtbar werden, die der Art und Weise, auf die diese Dinge traditionell wahrgenommen werden und funktionieren, dia­metral entgegengesetzt sind. So fertigt sie zum Beispiel Betonabgüsse von Hosenbeinen an oder schnitzt Holzbüsten bis zur Unkenntlichkeit der Gesichter zurück. Mit ihren Eingriffen in die Be­schaf­fenheit der Gegenstände löst sie vermeintliche Widersprüche wie Körper und Oberfläche, Gegen­­ständlichkeit und Abstraktion, Konstruktion und Destruktion spielerisch auf.

Oscar Tuazon (*1975 in Seattle, lebt und arbeitet in Paris und Tacoma/Washington) schafft Werke, die aufgrund ihrer Konstruktionsweise und Materialität zwischen Architektur und Skulptur oszillieren. Ge­prägt von der amerikanischen Tra­di­tion der DIY-Architektur, unterminieren sie mit ihrem Interesse an einfachen und gün­sti­gen, teils auf der Straße gefun­de­nen, ausrangierten Materialien die vor­der­gründige Verwandtschaft mit der Minimal Art. Die Be­to­nung des Ro­hen und Physischen in seinen archaischen und zugleich technoid anmutenden Konstruktionen aus Holz, Be­ton und Metall vertreibt jeden Gedanken daran, das das Material etwas anderes zeigen und repräsentieren könnte als sich selbst: Die bloße, dinghafte Materialität bildet den Kern seiner Werke.

Katalog
Living in the Material World
Mit Texten (dt./engl.) von Andrea Brauckmann, Julia Brennacher, Lotte Dinse, Beate Ermacora, Susanne Figner, Robert Fleck, Sylvia Martin, Gunnar Schmidt und Jürgen Tabor, Snoeck Verlag, Köln 2014

Künstlergespräch
Donnerstag, 22. Januar 2015, 19 Uhr
Michael Beutler im Gespräch mit Beate Ermacora

In Kooperation mit den Kunstmuseen Krefeld / Museen Haus Lange und Haus Esters