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Dachgarten für den Tiefspeicher der Wiener Stadt- und Landesbibliothek Rathaus, Hof Nr. 6, 1082 Wien
Realisierungszeitraum: Mai 2003 - Oktober 2005

Im Zuge der Erneuerung und Erweiterung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek wurde im Jahr 2004 im Hof Nr. 6 des Rathauses ein neuer Tiefspeicher für das Plakatarchiv errichtet. Den oberen Abschluss des Gebäudes bildet das Werk des Künstlerpaares Lois & Franziska Weinberger. Diese Arbeit wurde in Kooperation mit Kunst im öffentlichen Raum Wien, dem Errichter (MA 34) und dem Architekturbüro Hempl + Hempl umgesetzt. Nach der im Jahr 2004 erfolgten baulichen Fertigstellung wurden im Spätsommer 2005 in den Beton eingebrachte biomorphe Gangstrukturen mit bodendeckenden Sukkulenten bepflanzt.

Lois & Franziska Weinberger zählen zu den angesehensten österreichischen KünstlerInnen, die kontinuierlich große internationale Aufmerksamkeit erfahren. Beispiele dafür sind ihre 1997 im Rahmen der "documenta X" in Kassel präsentierte Arbeit - die Bepflanzung eines Bahngleises mit heimischer Vegetation und Neophyten - oder das Werk "Present Time Space" (1998), ein 400 Meter langer glashausähnlicher begehbarer Korridorbau auf der Hiriya-Müllhalde zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Zuletzt war das Künstlerpaar mit großen Ausstellungen u. a. im Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, im Freud Museum London und im Stedellijk Museum voor Actuele Kunst, Gent, vertreten.

Durch die Bepflanzung des Tiefspeicherdachs der Wiener Stadt- und Landesbibliothek erscheint das Werk von den darüberliegenden Gängen des Rathauses aus wie eine poetische Zeichnung. An einem Ort, wo archiviertes Wissen und gegenwärtiges Verwaltungsmanagement aufeinander treffen, begegnet man fast beiläufig einer organisch wirkenden und zugleich reliefartigen Gestaltung. Ihre formale Struktur entspricht aus der Vogelperspektive dem Verlauf der verzweigten Gänge des Buchdruckerkäfers (Ips typographus).

Lois & Franziska Weinbergers zeichenhafte Interventionen bleiben zumeist gezielt unspektakulär. Sie laden zum langsamen Teilnehmen ein und lassen sich auch metaphorisch lesen. Die angedeuteten Gänge könnten über die unmittelbare Dachzone hinaus als Netzwerk weitergedacht werden, das sich in den Stadtbereich ausdehnt. Eine bewachsene Zeichnung signalisiert die Möglichkeit eines lebendigen durchlässigen Austausches von kulturellen und biologischen Entwicklungen.

Zugleich unterläuft die Intervention etablierte Gestaltungsprinzipien weitab von alltagsprägenden Tendenzen zur Behübschung oder Dekoration und berührt stattdessen Fragen der Aneignung von Natur und Kultur. Die in den Dichtbeton eingebrachte ikonografische Darstellung Lois & Franziska Weinbergers kann als thematische Fortsetzung wie als ästhetischer Kontrast zu dem kulturellen Speichergebäude gesehen werden, das ebenfalls wenig Aufsehen erregend in einem Hof drei Tiefgeschosse nach unten reicht, anstatt als strahlende Kubatur im freien Gefüge des Stadtraums Blicke auf sich zu ziehen. Auf einer Gesamtnutzfläche von rund 1200 Quadratmetern finden sich hier Bestände der Handschriftensammlung, der Plakatsammlung und Teile der Druckschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. In das durch elegante Sachlichkeit gekennzeichnete Gebäude wurden ebenerdig Arbeitsräume der Plakatsammlung sowie die Restaurierwerkstatt der Bibliothek eingerichtet.

Während man im Inneren einem Teil der Bildgeschichte der Stadt begegnen kann, werden oben auf dem Dach unterschiedliche Bedeutungsebenen dialektisch zueinander in Beziehung gesetzt. Denn während das Gangsystem des Käfers subversiv an die Zerstörung von Papier- und Buchbeständen erinnert, deuten die bodendeckenden Sukkulenten das Moment der Bewahrung an.

Charakteristisch für Lois & Franziska Weinbergers Projekte ist das prozesshafte Herangehen. Im Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung steht nicht die Präsentation eines "fertigen Kunstwerks", sondern der ästhetische Anspruch, das Werk als wachsendes Zeichensystem wahrzunehmen. Mit Hilfe von Bildern und Texten, Wandzeichnungen, Objekten, Diaarchiven, Videoinstallationen und ortsbezogenen Interventionen reagiert das Künstlerpaar auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die geprägt ist von der stetigen Zunahme perfekt organisierter Territorien im Natur- und Stadtraum und der Zurückdrängung von kulturell bestimmtem Kommunikationsraum zugunsten wirtschaftlich effektiv genützter Flächen. Lois & Franziska Weinberger "bringen den inzwischen perfektionierten Kreislauf zwischen Wirtschaftsraum und organisierter Kunstnatur durch minimale, beiläufig und doch ebenso insistente wie subversive Eingriffe aus der Ordnung." (Annelie Pohlen)

Angeregt durch die Erfahrungen am elterlichen Bauernhof im Umgang mit unnützem Unkraut und nützlichem Pflanzenwuchs wird für Lois Weinberger das scheinbar Wertlose zum Arbeitsmaterial und zur Inspirationsquelle seiner künstlerischen Arbeit. Immer wieder verwendet werden so genannte Ruderalpflanzen, Pflanzentypen, die sich aufgrund ihrer Bedürfnislosigkeit auf Abfallhalden, Brachflächen, und Trümmergeländen ansiedeln und fernab vom Kosten-Nutzen-Denken unabhängig von jedweden Einflüssen nomadisch ausweiten. "Modelle für alternative Lebensstrategien" nennt Lóránd Hegyi Weinbergers Interventionen, Stella Rollig bezeichnet sie als "politische Metapher". Lois & Franziska Weinberger verstehen sich als Beobachter, Kommentatoren und Künstlerforscher. Beobachtet und erforscht werden Vegetationen, die langsam, aber konsequent - ohne Zielsetzung, ohne Bewusstsein und ohne Willen - eine konventionelle Situation verändern.

Die Herstellung der künstlerischen Arbeit wurde mit finanzieller Unterstützung von Kunst im öffentlichen Raum Wien, der MA 34, dem Wissenschaftszentrum Wien sowie der PORR Technobau und Umwelt AG ermöglicht.