Fotomuseum Winterthur

FOTOMUSEUM WINTERTHUR | Grüzenstrasse 44 + 45
CH - 8400 Winterthur

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Mehr als 20 Jahre nach seinem frühen Tod präsentiert das Fotomuseum Winterthur die erste grosse Übersichtsschau des amerikanischen Fotokünstlers Mark Morrisroe. Sein aussergewöhnlich vielseitiges Werk wurde in Europa bist jetzt kaum, und wenn dann in Gruppen- und Themenausstellungen präsentiert, meistens im Zusammenhang mit seinen bekannten Bostoner Kollegen Nan Goldin und David Armstrong. Die von Beatrix Ruf und Thomas Seelig kuratierte Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Nachlass Mark Morrisroe (Sammlung Ringier) im Fotomuseum Winterthur.

Mark Morrisroe war im Boston der frühen 1980er Jahre eine charismatische Figur, erschien er doch mit seinen Künstlerfreunden aus Studienzeiten oft gemeinsam in Drag und performte mit Stephen Tashjian, alias Tabboo!, unter dem Pseudonym „Clam Twins“ in den Bars und Clubs der Stadt. Auch als Künstler und Fotograf war er faszinierender Mittelpunkt einer lebendigen Bostoner Punk- und Kunstszene, deren wichtigste Protagonisten weit über die Stadt hinaus bekannt waren. Wie Nan Goldin und David Armstrong vor ihm, zog Mark Morrisroe Mitte der 1980er Jahre nach New York, um dort sein Glück zu suchen. Bereits im Juli 1989 starb er, viel zu früh, mit nur 30 Jahren an den Folgen von Aids.

Hinweise auf seine Herkunft und seine Vergangenheit sind umgeben von einem dichten Nebel, der Wahrheit und Fantasie ununterscheidbar erscheinen lässt. Durch kontinuierliche und variierende Selbstinszenierungen, deren Schauplätze von der Vergangenheit bis in die Zukunft reichten, hatte es Morrisroe stets verstanden, aktiv an der Gestaltung seines eigenen Mythos mitzuwirken, ihn mit fantasievollen Lügengeschichten zu befeuern oder aber ins Leere laufen zu lassen. So einnehmend, manchmal auch laut und verstörend sein Auftreten in der Öffentlichkeit sein konnte, mit dem er die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog, so leise wurde es nach seinem Tod – um ihn und seine Fotografie.

Retrospektiv ist Morrisroes Kunststudium in Boston und seine Jahre in der Punk- und Kunstwelt dieser Stadt wohl als seine zufriedenste und produktivste Zeit zu sehen. Hier entdeckte er einen positiven Zugang zu seiner Sexualität und fand mit Jonathan „Jack“ Pierson seine erste grosse Liebe, die in vielen seiner Fotografien und Polaroids zu sehen ist. Hier entstanden die ersten intimen Porträts von Vertrauten wie Lynelle White, mit der er 1975/76 fünf Ausgaben des collagierten, kopierten und kolorierten Dirt Magazins herausgab sowie viele seiner ersten selbstverliebten Inszenierungen vor der Kamera. Hier drehte Morrisroe in Anlehnung an sein Idol John Waters und mit Pia Howard als Hauptdarstellerin den Low-Budget-Trashfilm Nymph-O-Maniac.

Mark Morrisroes kurze Schaffenszeit von knapp zehn Jahren war geprägt von einem erstaunlichen Output fotografischer Experimente und zeichnete sich in allen Schaffensphasen durch eine neugierig suchende und stets individuelle Ästhetik aus, wie ein Blick in den umfangreichen Nachlass des Fotografen zeigt, der 2004 von der Sammlung Ringier erworben wurde und seit 2006 am Fotomuseum Winterthur deponiert ist. Rund 600 Farbabzüge, davon einige Dubletten, ungefähr genauso viele Silbergelatine-Abzüge, rund 800 der 2000 bekannten Polaroidaufnahmen, sämtliche Negative, Kontaktabzüge sowie ein Teil seiner persönlichen Schriftstücke, lassen die ungebändigte Lust und Energie erahnen, mit der sich Mark Morrisroe in sein Leben und seine Arbeit gestürzt hat.

In der Ausstellung werden frühe Farb- und Schwarz/Weiss-Abzüge, Polaroids und Polaroid-Negative, von denen wiederum Vergrösserungen angefertigt werden konnten, sowie von ihm per Hand bearbeitete Fotogramme gezeigt. Morrisroe experimentierte bereits während des Kunststudiums an der School of the Museum of Fine Arts Boston (1978-1982) mit verschiedenen Interpretationen von Vervielfältigung, dachte sich in mediale Möglichkeiten und deren inhärente Grenzen hinein und verwendete verschiedene ausgeklügelte Abzugsverfahren für seine fotografischen Abzüge. Besondere Aufmerksamkeit erlangten die sogenannten „Sandwich“-Prints, Vergrösserungen von übereinander montierten Doppelnegativen des gleichen Sujets, die zu einer aufwendigen, im Resultat dann sehr ikonisch wirkenden Bildlichkeit führten. Früh erkannte der Künstler bei Abzügen egal welcher medialen Ausformung deren eigenständigen Wert als Bildobjekte, die von ihm nach Belieben verfremdet, koloriert, bemalt und beschriftet wurden.

Allen Überlieferungen nach war Mark Morrisroe ein Getriebener auf der Suche nach Ruhm und Anerkennung. Rastlos und fordernd - immer auch sich selbst gegenüber, wollte er stets mehr und schöpfte aus dieser inneren Unruhe enorme künstlerische Energien. Sein Leben und sein Werk sind bis zum Ende, bis zu den in der provisorisch eingerichteten Dunkelkammer seines Krankenhauses fieberhaft produzierten und bis heute kaum je öffentlich gezeigten Fotogrammen, Zeugnis einer entgrenzten und rauschhaften Suche nach einer sinnlichen, ästhetischen und immer ambivalent aufgeladenen Bildwelt.

Der Nachlass Mark Morrisroe (Sammlung Ringier) im Fotomuseum Winterthur

Nach dem frühen Tod von Pat Hearn, zeitlebens Vertraute und spätere Galeristin des Künstlers, im Jahr 2000 kam es zu einer Unterbrechung der Ausstellungsaktivitäten um Mark Morrisroes Werk. Die Sammlung Ringier war seit 1998 an Morrisroe interessiert und immer wieder mit Pat Hearn in Kontakt gewesen. Diese Verbindung wurde auch mit Pat Hearns Ehemann Colin de Land von American Fine Arts weitergepflegt. 2002 wandte sich Colin de Land an Michael Ringier und Beatrix Ruf, um Möglichkeiten für die Zukunft des Morrisroe-Nachlasses zu besprechen, denn auch er war erkrankt und wusste, dass er selbst bald sterben würde. Gegenstand der Gespräche war die Frage, wie man der Verantwortung für diese wichtige künstlerische Position gerecht werden und dabei eine umfassende Werkgruppe möglichst zusammenhalten und einer breiten, internationalen Öffentlichkeit zugänglich machen könnte. Die Sammlung Ringier bot an, den Nachlass durch einen Ankauf zu sichern und am Fotomuseum Winterthur unterzubringen. So konnte für die detaillierte Inventarisierung und materialgerechte Lagerung gesorgt werden. Darüber hinaus wurde entschieden, dass der Nachlass Mark Morrisroe in Form einer Stiftung das Werk betreuen, das kuratorische Interesse fördern und sich für die Verbreitung und Rezeption des Werkes in Ausstellungen und Veröffentlichungen einsetzen solle.