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Michael Schmidt hat sich einmal als Sackgassenfotograf bezeichnet. „Das heißt, ich latsche immer in eine Sackgasse und finde keinen Ausweg. Dann akzeptiere ich diesen Zustand, und irgendwann bin ich wieder draußen. (…) Scheitern ist in meinem Arbeitsprozess ein integraler Bestandteil.“ Mit diesen Worten beschreibt der Fotograf zwei wesentliche Elemente seiner Arbeit: Er lehnt es ab, sein eigenes Werk zu zitieren und bevorzugt mit jeder neuen Serie und der eigens dafür entwickelten Bildsprache das Risiko des Scheiterns. Und er arbeitet in Projekten, jeweils über einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren, wodurch er das Risiko ein zweites Mal hinausfordert, denn: „Beim Projekt liegt das Neue, das Überraschende im Entwurf und in der Ausführung der Pläne. (…) Ein Projekt ist explorativ, koaliert mit dem Unbekannten, und deswegen kann es auch scheitern.“ (Michael Hagner)

Im Gegensatz zu dieser Rückhaltlosigkeit des Arbeitens stehen die Fotografien selbst. Sie überraschen dadurch, dass sie gänzlich unheroisch sind. In den berühmten Serien „Waffenruhe“ (1985–1987) und „EIN-HEIT“ (1991–1994 über die so genannte Wiedervereinigung Deutschlands), beide als Einzelausstellungen u.a. im Museum of Modern Art in New York präsentiert, vermischt Schmidt die Fotografien von eigener Hand teilweise extensiv und unterschiedslos mit Fotografien Dritter. Projekte wie „Frauen“ (1997–1999) oder „Irgendwo“ (2001–2004) sind mit den Mitteln der schwarz-weiß-Fotografie entstanden, zeichnen sich aber durch fast vollständiges Fehlen von schwarzen und weißen Tönen aus: Stattdessen herrscht ein Reichtum an Grautönen vor, der realistischer wirkt als es eine Farbfotografie sein könnte.

Obwohl sich Schmidt intensiv mit den großen Dokumentaristen der Fotografie wie zum Beispiel Walker Evans auseinandergesetzt hat, lässt sich sein Stil nicht festlegen. Gegen das Dokumentarische setzt er das Realistische. Gegen das Objektive setzt er den subjektiven Umgang mit dem Objekt, auch dem Menschen als Objekt. Und trotz der unmissverständlichen Zeitgenossenschaft eines jeden Projektes vermitteln die unterschiedlichen Serien immer ein derart starkes historisches Bewusstsein, sodass sie weit über den Moment der Aufnahme hinausweisen.

Die Fähigkeit von Michael Schmidt, scheinbar widersprüchliche Elemente in seiner Fotografie in eine gültige Form zu übersetzen, weist ihm eine herausragende Position in der aktuellen Fotografie zu. Während er mit seiner immer neuen Herangehensweise an fotografische und gesellschaftliche Fragestellungen eine singuläre Stellung einnimmt, gelten sein innovatives projekthaftes Arbeiten und sein extremes Engagement als Vorbild für eine Generation jüngerer Fotografen.

Mit der Serie „Lebensmittel“ schließt der 1945 in Berlin geborene Michael Schmidt die Reihe seiner großen Projekte ab. Im Frühjahr 2012 wird nach fünf Jahren der Planung und Realisierung das fotografische Essay zur Verarbeitung von Lebensmitteln in Europa erstmals veröffentlicht. Schmidt fotografiert seit 2006 in den Fischfarmen Norwegens, in Großbäckereien in Deutschland oder der Apfel verarbeitenden Industrie in Italien. Dabei kommt es nicht auf den konkreten Ort der Aufnahme an. Der weitgehende Verlust des lokalen Bezuges der Produktion, Weiterverarbeitung und Konfektionierung von Lebensmitteln macht es für den Betrachter unmöglich zu entscheiden, ob sich zum Beispiel ein Schlachtbetrieb in Spanien, Frankreich oder England befindet.

Die Fotografien belegen im Gegensatz zu manchen älteren Serien des Künstlers keine Haltung von Wut oder Anklage. Vielmehr ist die Sichtweise Schmidts von äußerster Klarheit und Härte gekennzeichnet. Der Blick in die Brotkörbe, in die Käfige der Fischfarmen oder Apfelwaschanlagen erinnert in seiner seriellen Analytik bisweilen an die sachliche Fotografie der 1920er Jahre. Doch gerade der Widerspruch zwischen der latent optimistischen Haltung der klassischen Fotografen, die ihre Motive aus der industriellen Produktion in einer perfekten Ästhetik in Szene setzten, und der realistischen Sichtweise Schmidts hinterlässt bei der Gesamtschau auf das Projekt einen verstörenden Eindruck.

„Lebensmittel“ wird vom 4. März bis 13. Mai 2012 erstmals im Museum Morsbroich präsentiert. Im Anschluss daran zeigen die Galerie im Taxispalais in Innsbruck (15. Juni – 26. August 2012) und der Martin-Gropius-Bau in Berlin (12. Januar – 1. April 2013) das Projekt.

Kurator der Ausstellung ist Markus Heinzelmann.

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Michael Schmidt
Lebensmittel
Kurator: Markus Heinzelmann

Stationen:
04.03.2012 - 13.05.2012 Museum Morsbroich
15.06.2012 - 26.08.2012 Galerie im Taxispalais
12.01.2013 . 01.04.2013 Martin Gropius Bau