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Mit dem Licht verlöre die Kunst alles: Raum, Farbe, Spiritualität und Dramatik. Wohl deshalb steht Verjux' Erziehung zur Schlichtheit erst für einige Minuten unter dem Zwang narrativer Erinnerungen. Als ich die Halbkreise im Entstehen sah, das Herumprobieren mit Steckern und Masken, mit Objektiven und Karussellprojektoren auf dem grauen Betonfußboden dieser Halle, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, in die hellen Fenster eigene Bilder hineinzugeben. Besser Gegenbilder: Kerzenlicht seziert eiskalt das Gemetzel von Guernica. Beckmann genügt eine Mondsichel, um Abscheu und Genuss an der Folter als intellektuelle Attitüde eines Melancholikers gegen die Zeit auftreten zu lassen. Welche Register?

Fast jeder Besucher unterliegt der Versuchung, im vermeintlichen Nichts wenigstens seinen eigenen Schatten wiederzufinden. Am Anfang steht folglich ein Irrtum. Aus „La grande cave“ (Die große Höhle), wie er diese Installation zuerst nannte, verabschiedete sich Verjux, weil der Titel existentielle Sehnsucht produzierte. Licht - oder besser die scheinbare Umkehr der Beleuchtung von „außen“ nach „innen“ macht aus der Halle im Untergrund nun das nüchterne „En sous-sol“, das Souterrain. Die Helligkeit fiktiver Fenster und die Dämmerung des Erlebens-Raumes schaffen die neue Ordnung von Säulenreihe, Boden, Wand und Decke. Visionär ist hier nicht die Verlockung von Freiheit, die uns als äußeres Licht erreicht. Vision ist eine Ortsveränderung, ein physikalischer Raum, der unseren Bezugspunkt als Mensch in diesem Vieleck eine andere Bedeutung als vorher gibt. Wie 30 Jahre zuvor die konkrete Poesie um Lemaitre, Isou und andere die Sprache als nichtdeskriptiven Vorgang entdeckte, gebraucht Verjux die Sprache des Lichtes als begriffliche Analyse des Raumes. Hier liegt, glaube ich, seine Authentizität. Die klare Empirie des Beleuchtens knüpft an die Tugenden der französischen Aufklärung an, die uns von Rousseau, Voltaire und anderen ans Herz gelegt wurden. Aber Verjux gibt auch zu verstehen, dass der Betrachter mehr als ein reflektierender und stummer Spiegel des gegenüberstehenden Raumes ist. Beleuchten ist zugleich auch „ein visueller Index, der existentiell mit der Situation, in der er sich gesetzt findet, verbunden ist“. Der Besucher wird es an sich erfahren oder enttäuscht „En sous-sol“ den Rücken kehren. Er muss dann freilich mit den „Vergewaltigungen des Tages“ zufrieden sein, weil ihm die sparsamen Illusionen der Kunst nichts mehr sagen können. […]

Klaus Werner In: Westfälischer Kunstverein Münster/Neues Museum Weserburg Bremen/Förderkreis der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst/Kunstverein St. Gallen (Hg.): Michel Verjux – Ausgewählte Werke aus den Jahre 1983-1993. Leipzig 1994, o.S.

Untergrundmessehaus Leipzig

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Michel Verjux
EN SOUS-SOL
Kuratoren: Harald Kunde, Klaus Werner
Ort: Untergrundmessehaus Leipzig