Kunsthalle Emden

KUNSTHALLE IN EMDEN STIFTUNG HENRI UND ESKE NANNEN | Hinter dem Rahmen 13
26721 Emden

plan route show map

artists & participants

press release only in german

Miklos Gaál (*1974) ist einer der erfolgreichen Vertreter der jungen finnischen Fotografengeneration, die seit einigen Jahren mit frischem, unverstelltem Blick auf die moderne Zivilisation auf sich aufmerksam macht. Die von der Kunsthalle in Emden konzipierte Ausstellung zeigt größtenteils bislang weder gezeigte noch publizierte Arbeiten, die auf den jüngsten Reisen des Künstlers in die USA, nach Südamerika und Israel entstanden sind.

Die erste Reaktion auf Miklos Gaáls Fotografien ist ein Reflex: unser Blick sucht unwillkürlich im weiträumig unscharfen Bereich der Fotos, bis er einen tiefenscharfen Bereich gefunden hat. Indem der Künstler uns mit der diffusen Peripherie jenseits des fixierten Bereiches konfrontiert, wird das Foto zum Dokument unserer selektiven Wahrnehmung.

Für Gaál ist die Unschärfe kein intuitiv benutztes Mittel unter vielen, vielmehr stellt ihr Einsatz beim Fotografieren neben der sorgfältigen Wahl des Bildausschnittes nach der Entwicklung der Fotos das wichtigste Werkzeug seiner Kunst dar. Dabei verwendet der Künstler eine großformatige Fachkamera, bei der sich die Belichtungsplatte mit dem Negativ stufenlos in alle drei Raumebenen schwenken lässt. Beim spielerischen Experimentieren kam dem Künstler 1999 die folgenreiche Idee, diese Technik umzudrehen. Er schwenkt die Belichtungsplatte so weit aus der Ebene größter Tiefenschärfe, bis nur noch ein schmaler Bereich des Negatives scharf, der Großteil des Bildes hingegen bewusst unscharf belichtet wird.

Gaáls Bilder versetzen uns in die Rolle des Observators. Wir beobachten aus der Vogelperspektive, ohne dabei selbst gesehen zu werden. Wie durch ein Zielfernrohr wird der einzelne Mensch fixiert, ohne dass er es ahnt. Höhe und Distanz des Beobachtungspunktes verleihen dem Betrachter Macht. Die Bilder bieten den weiten Blick auf die Drehscheiben des Verkehrs wie Flughäfen oder Bushaltestellen sowie die Event- und Rekreationszonen unserer Großstädte. Gaáls Kunst hat ihre Heimat im Niemandsland austauschbarer, oftmals temporärer Strukturen moderner Urbanität. Dabei verhindert die bewusst eingehaltene Distanz zwischen Kamera und Objekt jede innere Anteilnahme am beobachteten Geschehen. Der Mensch bleibt stets anonym und gerät so zum namenlos-winzigen, austauschbaren Teil des urbanen Raums. Wir sehen ihn, doch wir erkennen ihn nicht. Die Bilder schwanken zwischen Identitätssuche und Identitätsverlust. Das Individuum bleibt für den Betrachter fremd wie auch die Welt zu seinen Füßen eine fremde Welt bleibt.

Der tiefenscharfe Bereich der Fotos bildet gleichsam den Nukleus einer anderen Realität: wir meinen Bilder perfekt inszenierter Modelllandschaften zu sehen. Neben den wenigen scharfen Bereichen entfalten die diffusen Partien eigene formalästhetische Qualitäten. Der gezielte Einsatz der Unschärfe und die Wahl des Ausschnitts verwandeln die vermeintlich objektiven Dokumente in hochgradig durchdachte Kompositionen, deren ästhetischer Reiz aus dem ständigen Wechsel zwischen räumlicher und flächiger Wahrnehmung hervorgeht. Gaáls Bilder kultivieren einen scheinbar unbeteiligten Blick, der die Welt in eine modellähnliche Ferne rückt und uns über den Dächern der Städte zum Träumen animiert. So, wie beim Tagtraum der Blick verschwimmt und die Gedanken auf die Reise gehen, verwandelt der Künstler die urbanen Ansichten durch den subtilen Einsatz der Unschärfe in poetische Traumbilder. Anhand dieses geschickten Verwirrspiels gelingt es ihm, im Alltäglichen eine neue Wirklichkeit entstehen zu lassen, die, gerade weil sie unerreicht fern bleibt, beim Betrachter Sehnsüchte auszulösen vermag.

Erst seit Kurzem ist Miklos Gaál zu einem reisenden Künstler geworden. Bis 2003 entstehen alle Bilder des 1974 geborenen Sohnes einer Finnin und eines Ungarn in seiner finnischen Heimat. Doch auch seine zwischen objektiven Observationen und poetischen Traumbildern angesiedelten früheren Werke befragen die Wirklichkeit bereits in einem globalem Diskurs. Bevor wir überlegen können, was wir in ihnen fixieren wollen, hat der Künstler bereits für uns entschieden. Wie bei einer typischen sightseeing tour gibt er uns die eine – vermeintlich gültige – Perspektive auf das Motiv vor. Doch während die Touristenfotos eine nur kurze Halbwertzeit haben, konfrontieren uns Gaáls Bilder mit der Austauschbarkeit, Anonymität und Künstlichkeit des scheinbar Einmaligen und Wahrhaftigen. Er fragt nicht erst nach der Darstellbarkeit von Realität. Er transformiert sie mit seiner subtilen Handschrift der selektiven Schärfe in eine modellhafte Traumwelt, die unsere Wahrnehmung zwischen der Realität und der Künstlichkeit der Bilder – und unserer eigenen Welt – ins Schwanken bringt.

Nils Ohlsen

Pressetext

only in german

Miklos Gaál "Sightseeing Tour"
Kurator: Nils Ohlsen