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„Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht. [...] Nein, ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein.“
(Elena Ferrante: Meine geniale Freundin, 2016)

„Verschwinden“ – vielleicht war dieser Begriff nie aktueller als heute. In unserer Epoche, in der Bilder und Informationen im Sekundentakt gestreut werden, suggeriert er einen selbstgewählten Ausstieg aus dem beschleunigten Leben, mit anderen Worte: Ruhe. Doch ebenso wie eine Sehnsucht bildet er eine tiefe Furcht des Menschen ab, denn wer kennt sie nicht – die Angst vor dem Nicht-Gesehen-, vor dem Vergessenwerden oder dem eigenen Vergessen? Und diese Angst verbindet Menschen seit Jahrtausenden. Sie manifestiert sich in Palästen, Denkmälern, Kunstwerken, die die Erinnerung an Herrscher oder Berühmtheiten lebendig halten.

Doch nicht nur das körperliche Verschwinden, auch das rein visuelle Verschwinden, das Unsichtbarmachen, beflügelt seit langer Zeit die menschliche Fantasie: Schon in der griechischen Mythologie taucht die Hadeskappe auf – ein Helm, der seinem Träger, dem Gott der Unterwelt Hades Unsichtbarkeit verleiht. Im Nibelungenlied trutzt Siegfried dem Zwerg Alberich einen Mantel ab, der ihn unsichtbar macht. Im Herr der Ringe lässt der Ring seinen Träger verschwinden. Der Beispiele fänden sich noch viele, doch ihnen ist eines gemein: Sie illustrieren die tiefe Sehnsucht des Menschen nach einer zeitweisen Existenz frei von seinem eigenen Körper und vor den Blicken aller verborgen.

Obwohl bekannt ist, dass die im Internet hinterlassenen Spuren auf von uns gegangenen Pfaden nicht zu löschen sind, dass das Internet „nichts vergisst“, bildet das Digitale eine Sphäre, in welche der User abtauchen kann. Dieser Gedanke schlägt sich auch in Auswirkungen der digitalen Revolution nieder: Die Lust am Spiel mit der Fiktion – die längst keine Fiktion mehr ist. Dank technischer Möglichkeiten werden Computerspiele zunehmend tatsächlicher, virtuelle Realitäten greifbarer und animierte Körper real. Mit der Entgrenzung unserer vierdimensionalen Welt und deren Durchdringung seitens der Virtualität gehen Ent- und Re-Materialisierungsprozesse einher. Menschen ziehen sich zurück aus der analogen hinein in eine virtuelle Realität. Sie beginnen in dieser nicht-körperlichen Welt zu leben. Anders herum haben virtuelle Realitäten längst begonnen über ihre Netz-Existenz hinaus zu wachsen. Avatare und Cyborgs – Mischwesen zwischen künstlichen und lebendigen Organismen bzw. gänzlich artifizielle Kreaturen – sind Grenzgänger zwischen den Welten und vermehren sich beständig. Technische Neuerungen binden Körper in Bildern und Essenzen.

Tarnung oder Verstecken stellen zwei weitere Techniken des Verschwindens dar. Sei es im spielerischen Umgang, im Dienste gesellschaftlich relevanter Belange, beispielsweise beim Ausspähen von Staatsfeinden, bis hin zur überlebenswichtigen Strategie des Individuums, um in bestimmten Kontexten nicht aufzufallen – durch Angleichung des Äußeren oder Inneren geht der Mensch in seiner Umgebung auf.

Schließlich sei das unfreiwillige Verschwinden aufgrund gewaltsamer Übergriffe oder im Zuge transformativer Prozesse genannt, das einen konkreten Teil unserer Gegenwart bildet. Menschen, Orte, Städte und ihre Bauten sind Zerstörungsaktionen, aber auch naturgemäßen Veränderungen ausgesetzt. Altes verschwindet, um Neuem Raum zu geben. Transformationsprozesse überrollen Städte sowie deren Strukturen und radieren bisweilen die Geschichte eines Ortes vollkommen aus.

Am Schnittpunkt zwischen Fantasie und Realität entsteht Kunst und so geht die Ausstellung der Frage nach, wie das Phänomen des Verschwindens seinen Niederschlag in Werken der Gegenwartskunst findet. Wie gehen Bildende Künstler mit diesem Stoff, der die Menschheit seit so langer Zeit fesselt, um? Welche Mechanismen erwirken und steuern Auflösungsprozesse? Und was setzen Künstler dem Verschwinden entgegen?

Die Ausstellung Mit den Händen zu greifen und doch nicht zu fassen vereint Strategien des Entschwindens, der Auflösung, der Transformation. Sie geht dem physischen sowie mentalen Verschwinden nach und thematisiert den Umgang mit ihm, der einsetzt, sobald die Gestalt bzw. das materielle Erinnerungsstück unkenntlich wird.

Künstler: Vajiko Chachkhiani, Tim Etchells, Petrit Halilaj, Lynn Hershman Leeson, Sofia Hultén, Yutaka Matsuzawa, Agnieszka Polska, Walid Raad, Pamela Rosenkranz, Kateřina Šedá, Juergen Staack

Kurator/en: Stefanie Böttcher

Die Ausstellung wird unterstützt durch: Kulturstiftung Rheinland-Pfalz