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Eröffnung am 22.04.09, 20 Uhr

Einführung Dr. Wolfgang Strobel, Vorsitzender Kölnischer Kunstverein Dr. Konrad Schmidt-Werthern, Kulturamtsleiter Stadt Köln Kathrin Jentjens und Anja Nathan-Dorn, Direktorinnen Kölnischer Kunstverein

In Nora Schultz’ (*1975) erster institutioneller Einzelausstellung 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 zeigt sie umfassende Installationen, Diaprojektionen und Filme, die ihre intensive Auseinandersetzung mit einer konkreten Realität auf abstrakte Weise formulieren. Ihre unmittelbare Sprache und die Thematisierung kultureller, politischer und ethnographischer Werte durchdringen sich dabei gegenseitig.

Nora Schultz hat für den Ausstellungsraum eine Installation geschaffen, die grundlegende skulpturale Fragen aufgreift. Zu sehen sind mehrere an der Wand montierte oder mit einem Seil abgehängte, verchromte Rohre, die gleich einem Mobile sich mal in perfekter Balance befinden und an Waagen erinnern und mal ihr Gleichgewicht verloren haben und mit ihrer eigenen Haltung kämpfen. Nora Schultz’ Skulpturen erteilen den ausgewogenen Gewichtsverhältnissen des Kontrapost in der klassischen Skulptur eine Absage. In ihren künstlerischen Arbeiten gibt es kein ausgewogenes Verhältnis von Ruhe und Bewegung, Spannung und Entspannung, Gebundenheit und Freiheit des Körpers. Das Verhältnis von Träger und (Eigen)gewicht gerät in Schieflage. Schultz’ minimale Skulpturen bestehen aus industriellen Stoffen, Fundobjekten, Baumaterialien und Schiffsseilen und legen in ihrer Beschaffenheit Assoziationen zum Unabgeschlossenen, zum Bauen und Reisen nahe.

Doppelungen, Reproduktionen von Bildern und Situationen lösen die Autorität von ‚so ist es gewesen’ auf und bieten gleichzeitig eine andere ‚Authentizität’ an, die sich durch die Animation der ausgestellten Objekte ergibt.

Die fragilen Skulpturen werden im hinteren Bereich des Raums um zwei Diaprojektionen erweitert. Die erste Diaserie hält dreidimensionale Objekte mittels der zweidimensionalen Photographie aus unterschiedlichsten Winkeln fest. In der Bildfolge werden sie damit aber letztlich dynamisiert und in Bewegung gesetzt. Im letzten Raum empfängt den Besucher eine weitere Diaprojektion mit gefundenen und persönlichen Bildern von Reisen. Die abstrakten Andeutungen eines (Un-)Gleichgewichts von Massen und Werten werden hier in weitgreifende kulturelle und politische Bilder übersetzt. Dabei stellt Schultz assoziative Bezüge zum französischen Schriftsteller und Ethnologen Michel Leiris her, der in seinen Reisebüchern und Essays eine schonungslose Selbstanalyse und einen offenen, unmittelbaren Eindruck seiner Erlebnisse fremder Kulturen schildert. In seinem Tagebuch L´Afrique Fantôme beschreibt er afrikanische Rituale, in denen Stammeskulturen nicht nur ihre eigene Geschichte reflektieren. In ihren Ritualen kommentieren und parodieren sie auch europäische Kulturen und zeigen, dass es nie nur den einen herrschenden Blick auf einen Gegenstand gibt, sondern dass dieser Blick durchaus zurückgeworfen wird.

Neben den neuen zeigt Nora Schultz weitere Arbeiten, die inhaltlich korrespondieren. Die arrow sculpture (2007) kann sowohl als typografisches, zweidimensionales Zeichen mit Verweisfunktion als auch als reales Objekt und Visualisierung eines Pfeilgeschosses gelesen werden. Die x-tables (2007) changieren in ihrem Status zwischen buchstäblichem Zeichen und Objekt und weisen, ähnlich den Waagen, eine Instabilität und Umkehrung der Verhältnisse von Träger und Gewicht auf. Auch eine Diaprojektion im Untergeschoss greift den berühmten Fall eines gescheiterten Balanceakts als Thema auf, nämlich die Geschichte des Zappelphilipps aus dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann, einem Klassiker der Kinderliteratur. Hoffmann, Arzt und Direktor der Anstalt für Irre und Epileptische in Frankfurt am Main, schrieb in der Zeit der Nationalrevolution 1845 die Geschichte des kleinen Jungen, der nicht still am Tisch sitzen will. Das rebellische Kind, das sich den Vorschriften und Erziehungsmethoden der Eltern widersetzt und auf seinem Stuhl akrobatische Übungen durchführt, scheitert in dem Versuch, auf zwei Stuhlbeinen die Balance zu halten, und findet ein schlimmes Ende. Der Tisch wird dabei in der Diaprojektion zum Hauptakteur. Das durchaus umstrittene Kinderbuch ist in mehr als dreißig Sprachen übersetzt worden; die Illustrationen zeigen die vielfältigen Interpretationen dieser Geschichte in unterschiedlichen Kulturen der Welt.

Nora Schultz hat an der Städelschule in Frankfurt am Main, an der Willem de Kooning Akademie, Rotterdam und am Bard College, New York studiert. Sie nahm unter anderem an Gruppenausstellungen im Kunstverein Braunschweig (2005), Zentrum Paul Klee Bern (2006) und Museum Kurhaus Kleve (2008) teil. Einzelpräsentationen hatte sie zuletzt im kjubh (2007), in der Dépendance, Brüssel und bei Reena Spaulings Fine Art, New York (2008). Sie ist in diesem Jahr mit einer Einzelpräsentation auf dem Open Space bei Isabella Bortolozzi, Berlin und bei Art Statements auf der Art Basel bei Sutton Lane, London/Paris vertreten. Im Kölnischen Kunstverein erhält sie ihre erste institutionelle Einzelausstellung. Im Sommer 2009 zeigt sie gemeinsam mit Pernille Kapper Williams Arbeiten im Grazer Kunstverein.

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation.

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Nora Schultz
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