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Linie und Farbe, Fläche und Raum beschäftigten zwei der herausragenden Künstler der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts in Deutschland. Der eine entwickelte aus der Linie eine neue Idee für Skulptur, indem er die Linienplastik zu einem poetischen Symbol für Raum und Zeit, für die Raumzeit erhob. Der Andere, indem er der Farbe das Primat für die Gestaltung der Fläche gab und mit seinen späten, „Elementaren Bildern“ das Ende der Moderne bedeutete.

Der Drang zum Namenlosen, zum Legen einer bloßen Spur, die mit nichts zu vergleichen ist und an nichts zu erinnern scheint, ist für Norbert Kricke (1922-1984) seit Anfang der 1950er Jahre charakteristisch. Sein Schritt vom Körperlichen zum Einfachen, Elementaren und zugleich Vieldeutigen ist radikal. Er entdeckt die Linie, die nicht mehr in den Dienst plastischer Volumina tritt. Die Linie selbst, in ihrer Ungebundenheit wird zum plastischen Medium. Mit seinen eigenen Worten: „Linie: Form der Bewegung, Bewegung: Form von Zeit, nie als Begrenzung von Fläche, nie als Kontur von Körpern – immer als raumzeigendes Phänomen, als Offenheit.“ Die Farbe hat das Bild vom Werk Ernst Wilhelm Nays (1902- 1968) im allgemeinen Bewusstsein so ausschließlich geprägt wie bei kaum einem deutschen Künstler. In unserer Ausstellung jedoch wird Nay als Künstler der Linie mit Zeichnungen aus den 1950er/1960er Jahren gezeigt, die ohne jegliches Kolorit auskommen. Nays Zeichnung kennt keine Ruhe. Sie ist stets Transformation eines Bewegten, der die ruhende Fläche mobilisiert. Die in den 1950er Jahren entstandenen Blätter offenbaren Nays Umsetzung musikalischer Anregungen dieser Zeit in rhythmisch gesetzten Tuschlinien: gerade Linien mit abrupten Richtungswechseln und dynamischen Pinselschwüngen überziehen die Blätter, während kleinere Tuschflecke wie Notationen ihren Klang setzen. Die Bleistiftzeichnungen von 1960/61 legen die Rotation des graphischen Getriebes offen. Enggeführte Spiralzüge machen den federnden Expansionsdrang der Scheiben sichtbar, die Ungleichgewichtigkeit innerhalb der Kreiseinheit, Ballungen stehen leeren Zonen wie Energiequanten gegenüber. Die späten Filzstiftzeichnungen von 1966 bis 1968 vollziehen einen Wandel vom Musikantischen zum Gestalthaften. Die Linienflüsse, die die aufgerichteten figuralen Reihungen begrenzen, können weich und geschmeidig, spitzzackig und rückläufig, ausbuchtend um Inseln oder zu einem Delta geformt sein. Nicht selten finden extreme Gegensätze auf einem Blatt zur Einheit. Werner Haftmann hat sie als „Lebensarabesken“ bezeichnet. Erst in diesen letzten Blättern bricht etwas Schicksalhaftes mit erschütternden Psychogrammen ein. Das Seltenste, was sich nur in Zeichnungen wie bei Klee, Kirchner, Wols findet und in den späten Skulpturen von Kricke angedeutet wird, ist die Konfession der ganz auf sich selbst zurückgeworfenen Existenz.