Hospitalhof Stuttgart

Gymnasiumstraße 36 / Büchsenstrasse 33
70174 Stuttgart

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Rainer Ganahl ist in Bludenz, Österreich, geboren. Er hat Philosophie und Geschichte in Innsbruck studiert und Kunst an der HAK in Wien mit Peter Weibel und an der Akademie Düsseldorf mit Nam June Paik. 1990 besuchte er das Independent Study Program des Whitney Museums of American Art. Seit 1990 lebt und arbeitet Ganahl mit amerikanischem und österreichischem Pass in New York und ist Professor an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste.

Ganahl kann auf diverse Einzelausstellungen in renommierten Institutionen verweisen, wie u.a. das MAK, Wien (2009), die Tensta Kunsthalle Stockholm (2008), das Kunsthaus Stuttgart, 2007, das Museum für Moderne Kunst, Wien (2005), Wallach Art Gallery / Columbia University Museum, New York, 2005, das Kunsthaus Bregenz, 1998, das Künstlerhaus Stuttgart, 1996, das Person's Weekend Museum, Tokyo 1993 und das Dallas Museum of Art, 1993. Ebenfalls hat er auf etlichen Biennalen (Venedig, Shanghai, Kwangju, Sevilla, Moskau, Istanbul usw.) teilgenommen. Ganahl arbeitet mit Fruit and Flower Deli, Stockholm, New York, Berlin; Alex Zachary, New York; Elaine Levy Projects, Brussels; Galerie Schwarzwälder, Wien und Massimo de Carlo, Milano. 1999 hat Ganahl Österreich an der Biennale Venedig vertreten. Derzeit läuft gerade seine Einzelausstellung in New York bei Alex Zachary. Mehr Informationen zu zahlreichen Publikationen und seiner Kunst finden sich auf der website des Künstlers: www.ganahl.info

Am Ausstellungsort Hospitalhof und Hospitalkirche Stuttgart interessiert Ganahl die dort seit über 500 Jahren gewachsene Verbindung von Religion, Wissenschaft, Kunst , Gesellschaft und Politik und der Schatten, der in der Zeit des Nationalsozialismus auf den Ort gefallen ist. Teile des 1536 säkularisierten und ab dem 19. Jahrhundert als Polizeigefängnis genützten ehemaligen Dominikanerklosters dienten ab 1933 als Übergangsgefängnis in Konzentrationslager und waren in der Bevölkerung als "Büchsenschmiere" verschrien. So wurde der am 23. Juni 1933 in Stuttgart verhaftete Reichstagsabgeordnete der württembergischen SPD Erich Roßmann auf dem Weg ins KZ auf dem Heuberg in der Büchsenschmiere untergebracht.

Ganahls Konzept für diese Ausstellung besteht darin, den vielen geschichtlichen Funktionen dieses Ortes Arbeiten zuzuordnen, die sich mit den Interessen seiner Kunst überschneiden. Diese Schnittpunkte realisiert er wiederum in Bezug auf die Tradition von Kunst an sakralen Orten in Form von Holzschnitzereien. So finden sich das berühmte Karl Marx Zitat "Die Religion ist das Opium des Volkes" genauso in der Ausstellung wie ein Video and Photos seines Karl Marx Leseseminars, das im Hospitalhof abgehalten wurde. Für die Funktion des Hospitalhofs nimmt Ganahl Bezug auf Alfred Jarrys "Perpetual Motion Food", das der Autor 1903 in seinem Roman Der Supermann entwickelt hat. Es geht darin um die Grenzen von menschlichem Können, - durchaus eine zeiten-, kulturen- und religionsübergreifende Frage - und Jarrys Antwort: Fahrraddoping und Viagra. Eine entfremdete Version von Duchamps Etant Donné ist die Antwort Ganahls auf die traurige Realität von Folter und unangemessener Bestrafung, die auch die christliche Ikonographie im Bild der Kreuzigung bestens visualisiert hat. Anstelle der mittelalterlichen Pferde für die so genannte Vierteilung verwendet Ganahl Fahrräder.

Theodor W. Adorno's Portrait ist stellvertretend für die Funktion der Bildung- und Erziehung. Der jüdische Philosoph war maßgebend für die Rekonstitution des kritischen intellektuellen Lebens im deutschsprachigen Raum in der Nachkriegszeit. Der Ritterspielaspekt und der disziplinär-medizinische finden sich reflektiert in der Arbeit "Evolution", die eine Art verrückter Bremer Stadtmusikantenlogik reproduziert. Die Artenverschiebung drückt auf den Rücken des Fahrrads ein Auto, das wiederum von einem Esel und einem Affen bestiegen wird. Alles ist hier irgendwie auf dem Holzweg, ein Wort, das nicht nur als Ausstellungstitel dient, sondern auch Heideggers kulturkritisches Buch Holzwege ins Spiel bringt. Wie wir wissen, war der süddeutsche Philosoph eine recht dubiose Rolle während des III. Reiches gespielt, was durch seine Weigerung an einer "Entnazifizierung" nicht rektifiziert wurde. Die dunkelste Zeit des Hospitalhofs im 20. Jahrhundert war seine Zeit als so genannte "Büchsenschmiere." Ganahl adressiert dieses Stadium einerseits durch das Holzreliefs eines Wikipedia-Bildes von verwendeten, in Auschwitz gefundenen Zyklon B Gasbüchsen visualisiert und andererseits durch das Portrait einer ehemaligen Stuttgarterin, Hannelore Marx, die in den Osten deportiert wurde, glücklicherweise überlebt hat und heute noch in New York lebt.

Die Ausstellung wird abgerundet mit zwei weiteren Arbeiten zu Alfred Jarry, der als Dichter, Dramaturg, Fahrradfanatiker, Absinthmystiker und Pataphysiker das Interesse von Ganahl auf sich zog. Ganahl sieht in Jarry einen säkularisierten modernen Ersatzheiligen, der illegitime Substanzen, Sprachkunst und Fahrradfahren mit einem provokanten Lebensstil vermischte und so seinen Exzessen im fast gleichen Alter wie Christus erlag. Auf die poetische Parallelisierung von Jarry und Jesus wird nicht nur in der duchampschen Fahrradkreuzigung in Holz verwiesen, sonder auch in Ganahls 40 Minuten langem Film "Ce qui rule" (Das was rollt), wo die unterschiedlichen Stationen Jarrys anekdotisch vom Künstler fiktionsartig nachgespielt wurden.

Die Ausstellung wird mit einem Gottesdienst mit Bildpredigt und Orgelimprovisation zu einer der Arbeiten von Ganahl am Sonntag, 18. April 2010 um 10 Uhr und einer Vernissage um 11.15 Uhr eröffnet. Die Bildpredigt und die Einführung in das Werk von Ganahl verantwortet Helmut A. Müller, die Orgelimprovisation KMD Jürgen Schwab. Die Ausstellung ist montags bis freitags von 14-17 Uhr und an Sonn- und Feiertagen von 11-12.30 Uhr geöffnet.

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Rainer Ganahl, Holzwege. Ein Passionsspiel
Orte: Hospitalhof und Hospitalkirche Stuttgart