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Die Gruppenausstellung vereint regionale, schweizerische und internationale Positionen vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Themas. Alle Positionen verhandeln Fragen von Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion, wie sie aus einer Katastrophe wie derjenigen des Brandes von Glarus 1861 hervorgehen können. Die Ausstellung zeigt sowohl poetische als auch kritische Statements zum Moment des zivilisatorischen Nullpunktes, des gesellschaftlichen und kulturellen Wiederaufbaus und seiner fiktiv-utopischen Potenziale.

Das Ausstellungsthema nimmt Bezug auf die von Mai bis September stattfindenden Gedenkaktivitäten zum 150-jährigen Jubiläum des Brandes von Glarus von 1861. Diese Feuersbrunst zerstörte fast die ganze Stadt. Für ihren Wiederaufbau wurde ein damals äusserst fortschrittliches Stadtplanungskonzept nach dem Vorbild von modernen Industriestädten realisiert. Zerstörung und Wiederaufbau sind Themen mit langer Tradition sowohl in der Menschheits- als auch der Kunstgeschichte. Verwüstungen durch Kriege, soziale und politische Unruhen, Macht- und Modernisierungsbestrebungen aber auch Naturkatastrophen bieten immer wieder Nährboden für unterschiedlichste utopische und dystopische Visionen, die auch in der Kunst ihren Niederschlag finden. Mit der gegenwärtigen Umweltkatastrophe in Japan erhalten einige der Arbeiten der Ausstellung eine besonders dringliche Aktualität, die dem Leitthema der Ausstellung eine globale Dimension verleiht.

Die Auswahl der regionalen Kunstschaffenden stammt aus einem jurierten Projektwettbewerb mit thematischer Vorgabe, aus dem eine Fachjury bestehend aus Katharina Ammann (Konservatorin Bündner Kunstmuseum), Nadja Baldini (Kunsthistorikerin, freie Kuratorin) und Boris Magrini (Kunsthistoriker, freier Kurator) sechs Projekte von Kunstschaffenden aus der Region ausgewählt hat. Gezeigt werden Werke von SARAH BURGER, MARINA HAUSER, SUSANNE HAUSER, NICOLE HOESLI, SIRO A. MICHEROLI und SWEETERLAND. Daneben wurden mit CHRISTOPH DRAEGER, LOREDANA SPERINI und WIEDEMANN/METTLER weitere schweizerische und mit JANET CARDIFF & GEORGE BURES MILLER, SOFIA HULTÉN und CYPRIEN GAILLARD auch internationale Positionen eingeladen, die sich mit demselben Themenkomplex beschäftigen. Nach der erstmaligen „Kunstschaffen: Ausserordentlich!“-Ausstellung dieser Art 2007, findet die Ausstellung der regionalen Kunstschaffenden in diesem Jahr also erneut unter anderen Vorzeichen statt.

SARAH BURGER (*1982 in Glarus, lebt in Zürich) konstruiert aus einem verwahrlosten, in sich zusammengefallenen Holzschuppen, den sie vor seinem endgültigen Abbruch seit einiger Zeit in der Linthebene aus dem Zugfenster beobachtet hatte, ein Mondzimmer (2011). Sie transferiert das gefundene, zeitgezeichnete Material in den Ausstellungsraum und rekonstruiert einen Raum, aus dem sie einen Blick auf einen projizierten Mond, ermöglicht, der sich langsam bewegt. Dieser geheimnisvolle Ort, eine Zone zwischen Raum und Zeit, Realität und Fiktion bietet eine Projektionsfläche, einen mentalen Raum für die Reflexion über Vergangenheit und Zukunft, über die Entstehung von Kultur und deren Auflösung im Verlaufe der Zeit.

MARINA HAUSER (*1969, lebt in Glarus) gestaltet eine Serie von Postkarten, in der sie die Stadt Glarus in medialer Bearbeitung fiktiv neu gestaltet. Geleitet vom Interesse an den Möglichkeiten einer alternativen Stadtgestaltung, wie sie zum Zeitpunkt des Brandes von Glarus bestand und dem utopischen Gedanken eines optimierten, menschenfreundlichen Lebensraumes entwirft sie die Postkarten in touristischer Manier und spielt mit dem Versand in alle Welt augenzwinkernd auch auf die touristische Erwartungshaltung an ihren Heimatort an.

SUSANNE HAUSER (*1946, lebt in Weesen) zeigt eine eigens für die Ausstellung entwickelte Serie von abstrakten Zeichnungen mit dem Titel Constructive Destruction (2011). Sie nimmt das Thema der Ausstellung zum Anlass, über Endzeitvisionen und den utopischen Neuanfang nachzudenken. Eine auf die Moderne verweisende architektonische Formensprache, die etwa Erinnerungen an Oscar Niemeyers Architektur oder den Flugzeugbau wecken, sowie Formfragmente von artifiziell-schriller Farbigkeit, wie sie aus der Kunststoffindustrie geläufig sind, verdichtet die Künstlerin zu apokalyptischen, mentalen Landschaften. Mit den grossflächigen, dunklen Übermalungen und der Vielteiligkeit der Serie wird das Gefühl einer Endzeitstimmung zusätzlich verstärkt.

NICOLE HOESLI (*1980 in Netstal, lebt in Zürich) zeigt eine zweiteilige Arbeit, ein Video und ein installatives Filmset mit dem Titel Johnny Guitar (2010). Die Videoarbeit besteht aus einer simulierten Szene aus Nicolas Ray’s Filmklassiker Johnny Guitar, in der die Künstlerin die Rolle der Protagonistin spielt und die Ausschnitte mit denjenigen des Originalfilms von 1954 collagiert. Das zugehörige, scheinbar behelfsmässig aufgebaute Set, wird sowohl zur abstrakten Skulptur als auch zum Verweis auf die Konstruktion der Filmrealität an sich. Hoesli’s Arbeit zeigt keinen konkreten Bezug zum Thema des Wiederaufbaus, sondern ist ein Versuch der realen Rekonstruktion einer fiktiven Filmszene und damit ein Vexierspiel zur Konstruktion von Wirklichkeit an sich.

SIRO A. MICHEROLI (*1973, lebt in Ennenda und Zürich) zeigt eine vielteilige Fotoserie mit Bildern zweier Städte im Umkreis von Tschernobyl mit dem Titel From Prypjat to Slawutych (2007- 11) - Prypjat, nach dem Reaktorunfall in der kontaminierten Sperrzone gelegen und Slawutytsch, eine neu erbaute „Ersatz“-Stadt für die Menschen, zwei Jahre nach der Evakuierung von Prypjat. Die Dokumentation zeigt Prypjat als verfallene, seit einem Vierteljahrhundert von der Natur verwachsene Geisterstadt, in der Kulturhaus, Kino, Sporthallen und Rummelplatz, Hotels und Wohnbauten verwildern und Slawutytsch als analog gebaute, heute bewohnte Arbeiterstadt, die jedoch durch den rasanten Aufbau nach wenigen Jahren ebenfalls bereits von Zerfallsspuren gezeichnet ist. Micheroli interessiert sich dabei auch für die Bewohner und Bewohnerinnen dieser Stadt und zeigt vereinzelte Porträts der umgesiedelten, heute vielfach im Reaktorrückbau tätigen Arbeiter.

SWEETERLAND ist ein Kollektiv bestehend aus Elena Könz (1987 in Chur), Judith Weidmann (1977 in Dielsdorf), Yvonne Good (1984 in Sursee), Dominik His (1965 in Basel, lebt in Zürich) und Matthias Käser (*1978 in Schlieren, lebt in Glarus). Die Künstlergruppe zeigt ein ironisches Statement in Form einer Raum-Installation mit dem Titel Der böse Föhn (2011) mit konkretem Bezug auf die Ursache des Brandes von Glarus 1861. Der im Kanton Glarus bekannte Südwind wird als Hauptverantwortlicher für die Brandkatastrophe bezeichnet. Vor diesem Hintergrund zeigt Sweeterland eine Installation mit fünfzig elektronisch gesteuerten Haarföhnen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten Besucher und Besucherinnen mit plötzlichem Verströmen heisser Luft irritieren.

JANET CARDIFF & GEORGE BURES MILLER (*1957/1960, leben in Berlin und Kanada) sind mit der Videoarbeit House Burning (2001) in der Ausstellung vertreten. Das kanadische Künstlerpaar liess in Ontario (Kanada) ein altes Farmhouse unter Aufsicht der lokalen Feuerwehr niederbrennen und hielt den Brand mit Video und dreidimensionaler Tonaufzeichnung fest. Zu sehen und hören ist ein hyperreales Feuerspektakel, das einerseits auf die Faszination und Schönheit des Feuerinfernos und andererseits auf die unwiderrufliche Zerstörung des Hauses als Inbegriff menschlicher Kultur verweist.

CHRISTOPH DRAEGER (*1965 in Zürich, lebt in New York) zeigt eine Auswahl aus seiner umfangreichen Serie von Fotografien mit dem Titel Voyages Apocalyptiques (1994-2011), die seit 1994 in fortlaufender Entstehung ist. Draeger beschäftigt sich in seiner Arbeit seit bald zwanzig Jahren konsequent mit der medialen Bilderflut und der omnipräsenten Berichterstattung von Orten des Schreckens. In dieser Arbeit verfolgt er die Spuren der für die Medienberichterstattung aufbereiteten Tragödien und besucht die Orte von terroristischen Anschlägen, desaströsen Naturkatastrophen, Unfällen und Explosionen nach ihrem Wiederaufbau und porträtiert sie meist aus einer gewissen Distanz in der filmischen Totale. Mit der zeitlichen Distanz zeigen sich die ehemaligen Schauplätze der Katastrophen als mehrheitlich idyllische Orte, Postkartenbilder einer intakten Welt, denen sich der Mythos des vergangenen Desasters zwar eingeschrieben hat, aber teils wieder verblasst ist. Es wird dabei bisweilen nicht immer sofort klar, ob es sich um dokumentarische „Tatort“-Fotografie oder inszeniertes Filmbild handelt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen zunehmend.

CYPRIEN GAILLARD (*1980 in Paris, lebt in Berlin) beschäftigt sich in seiner Arbeit mit zeitgenössischen Zerfallsprozessen von kulturellem Aufbau und Niedergang, insbesondere mit der Vorstellung von zeitgenössischer Architektur als moderne Ruine. In seinen Arbeiten geht es wiederholt um die Wahrnehmung der Gegenwart als zukünftige Vergangenheit und um die Infragestellung des modernen Fortschrittsmythos. Der 16mm-Film Cities of Gold and Mirrors (2009) wurde auf der Halbinsel Yucatan in Mexiko gedreht. Es sind fünf lose verbundene Sequenzen, die in und um das in den 1970ern gegründete Ferienparadies Cancún kreisen, das heute zur Millionenstadt und Billig-Tourismus-Ort verkommen ist. Bildanalogien von aztekischen Ruinen und postmodernen Hotelanlagen, folgen auf Bilder von Golfplätzen und Trinkritualen von jungen „Springbreakern“, amerikanischen Männern, die in Mexiko dem Alkoholverbot des eigenen Landes entfliehen. Unterlegt ist Cities of Gold and Mirrors mit dem Soundtrack einer japanischfranzösischen Zeichentrickfilmserie der 1980er Jahre, welche auf geheimnisvolle Weise von der Entdeckung Amerikas erzählt und dem Film eine mysteriöse Atmosphäre verleiht.

SOFIA HULTEÅLN (*1972 in Schweden, lebt in Berlin) beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit Auflösungsprozessen und der potentiellen Neuordnung von vorgefundenen Objekten und Strukturen, die sie durch scheinbar absurde Interventionen verändert und diese Prozesse teils mit Video dokumentiert. Für die Bodenarbeit Artificial Conglomerates (2011) sammelte die Künstlerin Steinbrocken und Architekturfragmente auf Baustellen, die sie erst abgoss, anschliessend pulverisierte und danach aus diesem Material wieder in ihrer Ursprungsform rekonstruierte. Das Unterfangen, das sich endlos wiederholen liesse, ist eine künstliche Intervention in einen zyklischprogressiven Zeitbegriff von Entstehung, Wandel und Zerfall von Materie. In einer anderen, neu entstandenen Videoarbeit mit dem Titel Immovable Objects/Unstoppable Force (2011) versucht Hultén, allein mit der Kraft von Gedanken eine Dampfwalze zu bewegen. Hier stehen letztlich der menschliche Wille zur Umgestaltung von Materie und die Grenzen der Rationalität zur Diskussion.

LOREDANA SPERINI (*1970 in Wattwil, lebt in Zürich) zeigt eine neue Serie von kleinen Skulpturen, die aus gefundenen Porzellan-Fragmenten aus den Trümmerbergen ausserhalb Berlins entstanden sind. Noch immer suchen Menschen in den Schuttbergen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Trümmern der Bombardements aufgeschüttet wurden, nach Wertvollem. Sperini kaufte die Nippes-Fragmente in Berlin und setzte sie zu neuen Figuren zusammen, die von einer vergangenen Zeit zeugen und in denen sich kleine Szenen zu existentiellen Botschaften für eine fragile Gegenwart und ungewisse Zukunft verdichten.

WIEDEMANN/METTLER (*1966/1965 in Chur, leben in Zürich) präsentieren eine neue Serie von fotografischen Arbeiten mit dem Titel Tokyo 2011, die kurz vor dem Erdbeben in Japan Anfang 2011 entstanden ist. Es sind Aufnahmen von menschenleeren Innen- und Aussenräumen öffentlicher und halböffentlicher Orte. In den modellhaften Bildern ist ein starkes Interesse für die Wahrnehmung natürlich-organischer und künstlich-konstruierter Räume und Oberflächentexturen spürbar. Japan gilt als durch und durch ästhetisierte, kontrollierte und hoch-technologisierte Kultur. Vor dem Hintergrund der täglichen Schlagzeilen zu den Natur- und Reaktorkatastrophen hat sich dieses Bild indes verändert und der Betrachter sieht die Bilder der Stadt plötzlich mit einem leicht verschobenen Blick, in dem die latente Katastrophe plötzlich mitschwingt.

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(Re)Constructed
Kunstschaffen: Ausserordentlich!
Im Kontext von Glarus Brennt 150 Jahre nach dem Brand von Glarus.

Künstler: Sarah Burger, Marina Hauser, Susanne Hauser, Nicole Hoesli, Siro A. Micheroli, Sweeterland , Janet Cardiff & George Bures Miller, Christoph Draeger, Cyprien Gaillard, Sofia Hulten, Loredana Sperini, Wiedemann / Mettler.