press release only in german

Pier Paolo Pasolini gehörte als Filmregisseur und Schriftsteller, Theaterautor und Schauspieler, Lyriker und Journalist, Maler und Zeichner zu den herausragenden Künstlern des 20. Jahrhunderts. Seine Filme, aber auch sein literarisches und essayistisches Werk nehmen eine Sonderstellung ein und lassen sich keiner „Schule“ oder „Richtung“ zuordnen. Sie kreisen mit außergewöhnlicher Klarheit und Schärfe immer wieder um zeitlose Themen wie das Schicksal des Menschen, Religion, Sexualität und den Tod. Als Regisseur hat Pasolini nicht nur die Szenerie des europäischen Films seiner Zeit verändert und beeinflusst. Fast alle seine Filme waren Zäsuren, einschneidende, maßstabverschiebende Ereignisse, die immer wieder – auch heute noch – veranschaulichen, was Kino sein kann. Dreißig Jahre nach seinem gewaltsamen Tod am Strand von Ostia präsentieren wir im November und Dezember eine Gesamtschau des filmischen Werks von Pier Paolo Pasolini. Neben seinen Spiel- und Dokumentarfilmen werden auch die Episodenfilme, einige Fragmente, sowie Interviewfilme mit und über Pier Paolo Pasolini zu sehen sein.

Wir eröffnen die Retrospektive mit Pasolinis Debüt ACCATTONE (1961), den Bernardo Bertolucci (Pasolinis damaliger Regieassistent) als „zweite Geburt des Kinos“ bezeichnet. Der Titel des Films verweist auf den Spitznamen des Protagonisten, der von den Einkünften der Prostituierten Magdalena lebt. Als diese im Gefängnis landet und Accattone zeitweise kein Auskommen hat, lernt er die junge, naive Stella kennen. Er verliebt sich in sie und beschließt, Arbeit zu suchen. Doch seine Vorsätze scheitern an der schweren körperlichen Arbeit, die ihn erwartet. Mit einem Bekannten plündert er stattdessen einen Lastwagen – unter den Augen der Polizei, die ihn stellt … „Pasolinis Pathos besteht darin, nicht dem pittoresk Vertrauten Bestätigung im Bild zu geben, sondern dem schroff Unvertrauten die aberkannte Achtung wiederzugewinnen.“ (Karsten Witte) (1.11., Einführung: Ulrich Gregor & 2.11.)

Auch MAMMA ROMA (1962) spielt im Milieu des „sottoproletariato“, dem Unterproletariat der Vorstädte, das Pasolini unverwechselbar und fast dokumentarisch bereits in ACCATTONE zeigt. Die Ex-Prostituierte Mamma Roma versucht, nachdem ihr Zuhälter geheiratet hat, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Sie bezieht eine Neubauwohnung, holt ihren halbwüchsigen Sohn zu sich und beginnt auf dem Markt, Obst und Gemüse zu verkaufen. Doch ihre Träume von einem besseren Leben für sich und ihren Sohn scheitern, als dieser sich einer Bande Kleinkrimineller anschließt und Mamma Roma von ihrem ehemaligen Zuhälter wieder auf die Straße geschickt wird. „Pasolini ist alles andere als ein kühler Seismograf des Elends. Er registriert nicht teilnahmslos, er entdeckt – sensibel für unaussprechbare optische Momente, leidenschaftlich engagiert, mit einmaliger Ausdruckskraft – die Schrecken und die Schönheiten einer brutalen, stolzen und auswegslosen Welt.“ (Eckhart Schmidt) (3. & 7. & 8.11.)

Pasolinis LA RABBIA (Die Wut/Der Zorn, 1963) ist der erste Teil eines zweiteiligen Films, der sich der Frage „Warum wird unser Leben von Unzufriedenheit, Furcht, Kriegsangst und Krieg beherrscht?“ widmet. Der zweite Teil entstand unter der Regie von Giovanni Guareschi (Don Camillo und Peppone) und wurde auf öffentlichen Protest hin wegen seines angeblich rassistischen Inhalts zurückgezogen, worauf auch Pasolinis halblanger Teil des Films für längere Zeit von den Leinwänden verschwand. „LA RABBIA besteht vollständig aus Dokumentarmaterial, hauptsächlich Stücke aus Wochenschauen, das Material ist fürchterlich banal und reaktionär. Mein Kriterium war, die Gesellschaft meiner Zeit und was in ihr passierte, von einem marxistischen Standpunkt aus anzuklagen.“ (Pier Paolo Pasolini) Im Anschluss an LA RABBIA läuft der Interviewfilm PASOLINI L’ENRAGE (Pasolini, Der Zornige, 1966/1994), den Jean-André Fieschi 1966 für die legendäre Reihe „Cinéastes de notre temps“ drehte. Neben Interviews mit Bertolucci, Franco Citti, Ninetto Davoli und Totò spricht Pasolini hier u.a. über seinen Werdegang von der Literatur zum Film, über Regisseure, die ihn beeinflusst haben, über seine spezifische Filmtechnik, über seine Motive, auch mit nicht-professionellen Schauspielern zu arbeiten, über die italienische Gesellschaft der 50er und 60er Jahre, sowie die italienische Bourgeoisie. (4. & 9.11.)

Der eineinhalbstündige Interview-Film COMIZI D’AMORE (Gastmahl der Liebe, 1963) beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Italiener zu Liebe und Sexualität. Für diesen Film interviewte Pasolini Hunderte von Menschen verschiedensten Alters aus verschiedensten Gegenden Italiens, darunter auch zahlreiche Intellektuelle. Im Laufe des Films werden diese Interviews immer wieder durch Gespräche zwischen Pasolini, Alberto Moravia und dem Psychologen Cesare Musatti unterbrochen, die sich über das eben gezeigte Material unterhalten und am Ende des Films die Entmystifizierung der Sexualität fordern, um ein freieres Verhältnis zu ihr zu finden. (6. & 11.11.)

SOPRALUOGHI IN PALESTINA PER IL VANGELO SECONDO MATTEO (Ortsbesichtigung in Palästina für Das Erste Evangelium – Matthäus, 1963/64) entstand während einer Reise Pasolinis nach Palästina, wo er zur Vorbereitung für seinen späteren Film IL VANGELO SECONDO MATTEO den historischen Hintergrund des Stoffes und die Möglichkeit seiner Realisation erkunden wollte. Der Film enthält Gespräche Pasolinis mit Pater Andrea Rossi, der ihn in der Vorbereitung für IL VANGELO SECONDO MATTEO von geistlicher Seite beriet, aber auch Reflexionen des Regisseurs über das Land und die Menschen. SOPRALUOGHI IN PALESTINA ist ein Beispiel des „cinéma direct“, „für die Verbindung zwischen Personen und Realität, zwischen den Objekten und den Emotionen. Es ist ein Filmbrief, ein Rechenschaftsbericht, geschrieben mit der Kamera, Tag für Tag, nach einem genau festgelegten Reiseablauf, der an die Orte des Evangeliums führt.“ (Cinéma, Zürich) (10. & 12.11.)

Eng am Text des „Matthäus-Evangeliums“ arbeitend entwirft Pasolini in IL VANGELO SECONDO MATTEO (Das Erste Evangelium Matthäus, 1964) seine persönliche Vision des Lebens und Sterbens Christi. „Ich wollte die Geschichte Christi plus 2000 Jahre christliche Übersetzung erzählen, denn es sind die 2000 Jahre der christlichen Geschichte, die diese Biografie mythisiert haben, die als solche sonst eine fast unbedeutende Biografie wäre.“ Der Film wurde zum größten Teil in den süditalienischen Regionen Apulien, Lukanien und Kalabrien mit ortsansässigen Laien gedreht. (15. & 17. & 20.11.)

Der Pasolini-Schauspielerin, -Freundin, -Vertrauten und langjährigen Leiterin des Fondo Pier Paolo Pasolini in Rom, Laura Betti, ist es in ihrer Hommage PIER PAOLO PASOLINI E LA RAGIONE DI UN SOGNO (Pier Paolo Pasolini und der Grund für einen Traum, 2001) gelungen, den Regisseur noch einmal als Zeitgenossen erscheinen zu lassen. „Es liegt viel Liebe in diesem Dokumentarfilm. Eine Liebe, die zum Ausdruck kommt durch die Art und Weise, wie hier Archivmaterialien zueinander in Beziehung gesetzt werden, durch die melancholische Tonspur, die schmelzende Nostalgie, die Laura Betti auf den Zuschauer übertragen möchte. Aber es gibt auch sehr viel Klarsichtigkeit, die Klarsicht eines Propheten, der uns lange im Voraus verkündet, was bevorstand: die anthropologische Verwandlung des Bürgers in einen Verbraucher, die kulturelle Einebnung, die Produktion bzw. der Erwerb überflüssiger Güter, die Entwicklung ohne Fortschritt.“ (R. Nepoti) (13. & 22.11.)

Abgesehen von LA RABBIA hat Pier Paolo Pasolini noch an vier weiteren „Serienfilmen“ mitgewirkt, für die er einzelne Episoden drehte. Zu diesen Kurzfilmen – mittlerweile als „komische Episoden“ in die Literatur eingegangen – gehören LA RICOTTA (1962), LA TERRA VISTA DALLA LUNA (Die Erde vom Mond aus gesehen, 1966), LA SEQUENZA DEL FIORE DI CARTA (Die Sequenz der Papierblume, 1968) und CHE COSA SONO LE NUVOLE? (Was sind die Wolken?, 1967). LA RICOTTA entstammt dem Film RoGoPaG (die anderen Episoden wurden von Rossellini, Godard und Gregoretti gedreht): Während der Dreharbeiten zu einem Christusfilm stirbt ein Komparse an einer zu großen innerhalb kürzester Zeit verschlungenen Portion Ricotta. Sein Tod wird erst entdeckt, als der Regisseur des Films, gespielt von Orson Welles, die Kreuzigungsszene drehen will. LA TERRA VISTA DALLA LUNA ist die dritte von fünf Episoden für den Omnibusfilm Le Streghe (Die Hexen), an dem neben Pasolini Rosi, Bolognini, Visconti und de Sica beteiligt waren. Eine schöne Taubstumme (Silvana Mangano) soll Ordnung in Heim und Leben von Vater und Sohn Miao (Totò und Ninetto Davoli) bringen. Um die Haushaltskasse aufzubessern, soll die Taubstumme einen Selbstmordversuch vortäuschen, bei dem sie allerdings versehentlich wirklich stirbt. Als Vater und Sohn in Tränen aufgelöst nach Hause kommen, steht sie tot und doch quicklebendig am Herd. Der letzte Untertitel lautet: „Leben oder tot sein ist ein und dasselbe.“ CHE COSA SONO LE NUVOLE? drehte Pasolini für den Film Capriccio all’italiana, dessen weitere Episoden von Steno, Bolognini, Zac und Monicelli gedreht wurden. Die Protagonisten in CHE COSA SONO LE NUVOLE? sind Puppen. Sie spielen eine vereinfachte Variante von Shakespeares „Othello“. Während die Puppen hinter den Kulissen das Verhalten der Figuren des Stückes hinterfragen, mischt sich auch das subproletarische Publikum in den Verlauf der Handlung ein und sprengt die Vorstellung. Am Ende wirft ein Müllmann die arg mitgenommenen Puppen auf die Müllhalde, wo sie zum ersten Mal den Himmel sehen. In LA SEQUENZA DEL FIORE DI CARTA aus dem Episodenfilm Amore e rabbia (die weiteren Regisseure waren Lizzani, Bertolucci, Godard und Bellocchio) schlendert ein Junge (Ninetto Davoli) mit einer Mohnblume in der Hand die Via Nazionale entlang, während ihm Gott aus dem Himmel seine glückliche Schuldlosigkeit vorwirft und ihn dafür bestraft. (18. & 21.11.)

UCCELLACCI E UCCELLINI (Große Vögel, kleine Vögel, 1966) ist eine Meditation über die Stellung des Kleinbürgers zwischen Proletariat und katholischer Kirche. Ein älterer Mann (Totò) und sein Sohn (Ninetto Davoli) sind auf einer Landstraße unterwegs. Zu ihnen gesellt sich ein Rabe „aus dem Land der Ideologie“, der die beiden u.a. über die verschiedenen Widersprüche in ihrem Leben aufklären möchte. Seine marxistischen Parolen lassen Parallelen zum damaligen Chef der italienischen Kommunisten, Togliatti, entstehen. Später erzählt ihnen der Rabe eine Parabel vom heiligen Franziskus und ermuntert Vater und Sohn, den Spatzen und Falken das Evangelium zu predigen. Pasolini zufolge behandelt UCCELLACCI E UCCELLINI „die Krise des Marxismus während der Zeit der Widerstandsbewegung und der fünfziger Jahre“. Als Vorfilm läuft TOTO AL CIRCO (1966), ein Fragment. (19.11., Einführung: Marc Siegel & 24.11.)

In EDIPO RE (König Ödipus, 1967) beschäftigte sich Pasolini zum ersten Mal mit der griechischen Mythologie. Die Rahmenhandlung des Films spielt in der faschistischen Vorkriegszeit: Der kleine Ödipus beobachtet seine Eltern, von denen er sich vernachlässigt fühlt. Das eigentliche Ödipus-Drama ist in den wüstenartigen Landschaften Marokkos angesiedelt. Pasolini weicht in seiner Ödipus-Version an vielen Stellen von der klassischen Interpretation der Sage ab, so fügt er z.B. im Prolog einen hasserfüllten Vorwurf des Vaters an den Sohn ein, dieser stehle ihm die Liebe seiner Frau. „Als ich den Film machte, hatte ich zwei Ziele: erstens eine vollständig metaphorische und deshalb mythisierte Autobiografie: und zweitens wollte ich sowohl dem Problem der Psychoanalyse als auch dem Problem des Mythos entgegentreten. Aber anstatt den Mythos auf die Psychoanalyse zu projizieren, habe ich erneut die Psychoanalyse auf den Mythos projiziert.“ (25.11., 27. 11, mit einer Einführung von Giovanni Spagnoletti & 29.11.)

Die Retrospektive wird im Dezember fortgesetzt. Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit Cinecittà Holding, Rom, der Associazione „Fondo Pier Paolo Pasolini“, Rom, dem Centro Studi – Archivio Pier Paolo Pasolini, Bologna und dem Istituto Italiano di Cultura, Berlin. Ein besonderer Dank geht an Klaus Volkmer vom Filmmuseum München.

only in german

Retrospektive Pier Paolo Pasolini
Ort: arsenal Berlin