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Orte:
Die Großausstellung „Grand Hotel Abyss“ findet an verschiedenen Orten in der Stadt Graz statt.

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steirischer herbst '19 - Grand Hotel Abyss
Jasmina Cibic, Jeremy Deller, Ian Hamilton Finlay
20.09.2019 — 28.11.2019

Presseführung: 19.09.2019, 13:00
Welcome / Artist Talk: 21.09.2019, 17:00

In Kollaboration steirischer herbst '19 und Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien

Kurator_innen: Ekaterina Degot, Christoph Platz, David Riff
Förderung Jasmina Cibic: ERSTE Stiftung

Der Titel des diesjährigen steirischen herbst lautet „Grand Hotel Abyss“ (Grand Hotel Abgrund) – eine schlagende Metapher, die der Philosoph Georg Lukács prägte. Lukács beschrieb die europäische Szene der Intellektuellen und Kulturschaffenden als „ein schönes, mit allem Komfort ausgestattetes modernes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.“ Lukács ́ Bild entspricht der Selbstdarstellung von Graz und dem umliegenden österreichischen Bundesland Steiermark als Genussregion, als kulinarische und ästhetische Wohlfühlzone. Graz und die Steiermark gehören zu den zahlreichen Blasen aus gehobener Gastronomie, Wellness und Bio-Komfort, die in Zeiten zunehmender Ungleichheit entstehen – Orte, die maßgeschneidert sind für Geschäftsreisende und Kulturtourist_innen, wo das Lob traditioneller Erzeugnisse beängstigende, kryptonationalistische Untertöne haben könnte und der Abgrund der radikalen gesellschaftlichen Exklusion, der Wirtschaftskrise und des entfesselten militärischen Konflikts lauert und in Zeitlupengeschwindigkeit näherkommt.

„Grand Hotel Abyss“ nimmt in einer Großausstellung an verschiedenen Orten in der Stadt Graz diese Situation als Ausgangspunkt für eine umfassendere Betrachtung des Hedonismus in Zeiten der nahenden Apokalypse. Das Festival blickt zurück auf seine Vorgeschichte in den turbulenten Tagen des beginnenden Kalten Krieges, als britische Offiziere, darunter auch der junge John le Carré, das Hotel Wiesler – das damals einzige wirkliche Grand Hotel der Stadt – übernahmen und ihr Hauptquartier im Palais Attems aufschlugen, in dem sich heute das Büro des steirischen herbst befindet.

Im Rahmen des umfangreichen Projektes „Grand Hotel Abyss“ kollaboriert der steirische herbst und das Künstlerhaus – Halle für Kunst & Medien anhand von drei künstlerischen Positionen, deren Arbeiten mit der Idee „spielen“, den Bau des Künstlerhauses als ein Abschiedsgeschenk der in der Nachkriegszeit in der Steiermark positionierten britischen Alliierten zu sehen. Dieses Gerücht wirft ein neues Licht auf die Entstehungsgeschichte der Institution und deren über Jahrzehnte wechselvoll geplanten und schließlich 1952 unter Schirmherrschaft des Landes Steiermark und mit Unterstützung der Stadt Graz, des Bundes und der lokalen Künstlerschaft realisierten spätmodernen Bau. Die britische Alliierten legten ihren für den Aufbau der 2. Republik so wichtigen Schwerpunkt neben allgemeinen administrativen Tätigkeiten auf den Wiederaufbau des Rechtsstaates, der Re-Demokratisierung und Ent-Nazifizierung, wobei eine kosmopolitisch ausgerichtete Kulturpolitik eine nicht zu unterschätzende begleitende Rolle spielte, die der regionalen Bevölkerung und den Künstler_innen den zu Zeiten des Austro-Faschismus und Nationalsozialismus untersagten Zugang zur Moderne ermöglichte und einen internationalen Austausch anregte.

Jasmina Cibics Videoinstallation „Das Geschenk – 1. Akt (2019)" ist das erste Kapitel ihrer neuesten poetischen Studie über die unzähligen politisch motivierten Schenkungen, die sich in der Kunst- und Architekturgeschichte Europas finden lassen – im Besonderen in Zeiten des Wiederaufbaus nach gesellschaftlichen Krisenmomenten. So hält sich übrigens auch in Graz hartnäckig das Gerücht, das Künstlerhaus sei ein „Abschiedsgeschenk“ der britischen Besatzungstruppen gewesen. Cibic wiederum geht der Frage nach, wie Kultur – getarnt als Spende – zum trojanischen Pferd werden kann. Einige besonders spektakuläre Bauschenkungen in ihrem Film werden zur Kulisse für einen allegorischen Wettstreit der personifizierten Kunstgattungen, die sich einer fiktiven gespaltenen Nation als perfektes Geschenk anbieten. Beurteilt werden ihre eifrigen Leistungen von einer Jury der vier Grundfreiheiten aus Franklin D. Roosevelts berühmter Rede, die er unmittelbar vor dem Einstieg der USA in den Zweiten Weltkrieg hielt. Diese Schiedsrichter_innen werden im Laufe des Wettbewerbs immer aggressiver, die Komplizenschaft von Kultur und Politik erweckt in ihnen den Hang zum Populismus. Am Ende ist ihr Urteil vernichtend: Besser, man trennt völlig zwischen Staat und Kultur – mit allen Konsequenzen. In ihrem Film verfolgt Cibic diesen imaginären Wettbewerb. Eine Metallskulptur versinnbildlicht darin das perfekte Geschenk, das mit folgendem Spruch, der aus den politischen Debatten um einen der Drehorte des Films hervorging, versehen ist: „Alles, was ihr begehrt, und nichts, wovor ihr Angst hättet“.

Absurder Fremdenhass, irre Sehnsucht nach Abschottung: In seiner neuen Videoarbeit „Putin’s Happy" (2019) verschafft uns Jeremy Deller Einblick in die Verbreitung von Rechtspopulismus und möglicherweise auch Faschismus in Großbritannien. Er nimmt sich den fehlgeleiteten Patriotismus vor, der zum Ergebnis des Brexit-Referendums beigetragen hat und der unter rechtsgerichteten Kontinentaleuropäer_innen – so auch in Österreich – weit verbreitet ist. Als lautstarker Gegner des britischen Austritts aus der EU war Deller auch direkt politisch aktiv, etwa mit einer „Fuck Brexit“-T-Shirt-Kampagne, die viel Aufmerksamkeit erregte. Der Künstler erforscht den faulen Zauber britischer Nationalmythen und politischer Geschichte, die die heutige Situation in seinem Land hervorgebracht haben. In diesem Film konzentriert er sich auf groteske Details und den exzentrischen Dekor der Fantasiewelt britischer Populist_innen, dessen tragikomische Wirkung auf die Realität in den täglichen Aufmärschen seiner Demonstrant_innen sichtbar wird. Eigens von Deller gestaltete Anti-Brexit-Banner leiten die Installation ein und setzen so sein unverwechselbares und jahrelanges künstlerisches Engagement in politischen Kämpfen auf einer weiteren Ebene fort.

Ian Hamilton Finlays künstlerisches Werk, hier durch eine Auswahl von Leihgaben wie Druckgrafiken, Objekten und Aphorismen (1973–2003) präsentiert, kreist um die Ambivalenz eines Klassizismus, der einerseits in engem Zusammenhang mit den demokratischen Idealen der französischen Revolution stand, andererseits als Neoklassizismus im 20. Jahrhundert als totalitäre Ästhetik angeeignet wurde. Dieser Zweischneidigkeit nimmt Finlay sich herausfordernd an. Aus Fragmenten klassizistischer Kunst werden Bilderwitze, kommentiert mit Gedichtzeilen, Inschriften und Anagrammen, die die Geschichte der Revolution und ihre Instrumentalisierung der antiken Kunst und Architektur reflektieren. Finlay erkennt im Klassizismus nicht nur Spuren der Militarisierung, sondern umgekehrt auch klassizistische Elemente in ästhetisch ansprechenden Maschinen samt Tarnmustern, wie sie in heutigen Kriegen verwendet werden. Finlay reiste selten und verbrachte den größten Teil seines Lebens damit, an einer Garteninstallation in Schottland zu arbeiten, der er den sarkastischen Titel „Little Sparta" gegeben hat – im Bemühen um einen größtmöglichen Gegensatz zum schottischen Edinburgh, das sich wegen seiner Lage am Meer und seiner Dichte an klassizistischen Bauten gern „Athen des Nordens“ nennt. Hier verwirklichte er viele der in seinen Drucken gezeigten, poetischen Thesen und spickte seinen weitläufigen Garten mit Steintafeln auf Bäumen, klassischen Fragmenten, „Flugzeugträger-Vogelhäusern“ und „Bienenstock-Schlachtschiffen“. Nach außen konservativ und nach innen radikal-trotzig, kommentiert seine Arbeit im Kontext ihrer Präsentation im Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien, auch das Gerücht, das Gebäude sei ein Geschenk der britischen Besatzungstruppen gewesen.