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„Die Gefühle sind die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Von ihnen kann man sagen, was man von den Kelten (mehrheitlich unsere Vorfahren) gesagt hat: Sie sind überall, man sieht sie nur nicht. Die Gefühle beleben (und bilden) die Institutionen, sie stecken in den Zwangsgesetzen, in den glücklichen Zufällen, agitieren an den Horizonten, bewegen sich über diese hinaus bis in die Galaxien. Sie finden sich in allem, was uns angeht.“ Alexander Kluge: Die Chronik der Gefühle Ausgehend von der eigenen Biografie, bildet die Beschäftigung mit Geschichte, insbesondere der deutschen Geschichte der DDR und ihrer Auflösung, einen Arbeitsschwerpunkt im Werk von Sven Johne. Dabei geht es stets darum, wie die Linien von individuellen Lebensgeschichten sich mit den Linien der „Universalgeschichte“ kreuzen und in Ihnen Differenzierungen schaffen.

In dem Video „Tears of the Eyewitness“ wird die Konstruktion von Erinnerung aber auch die von „Gegenwart“ vorgeführt. Es handelt sowohl von der Macht der Erzählung (des Mythos) als auch von den Techniken seiner Produktion. Johne stellt den Moment der Diskrepanz aus, zwischen bloßen Fakten und ihrer Übermittlung. Wir sind inmitten einer professionellen Fernsehproduktion. Ein Motivationstrainer und ein etwa 40-jähriger Schauspieler sitzen sich gegenüber: Es soll „emotionales Füllmaterial“ für eine Dokumentation zum Fall der Mauer produziert werden. Die Aufgabe des Motivationstrainers ist es, „echte Gefühle“ im Schauspieler zu erzeugen und ihn zum Weinen zu bringen. Indem er die dramatischsten Ereignisse des Jahres 1989 in Deutschland – und vor allem in Leipzig – Revue passieren lässt, will er an die persönliche Erinnerung des Schauspielers appellieren. Er ruft Bilder auf, die ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind, erwähnt aber auch Situationen, die weniger bekannt sind. Es entsteht ein befremdliches Wechselspiel zwischen artifiziellen und ehrlich empfundenen Emotionen, das – 20 Jahre nach dem beschworenen Ereignis – auch die Betrachter des Videos erfasst.

„Was Menschen brauchen in ihren Lebensläufen, ist Orientierung. So wie Schiffe navigieren. Die subjektive Orientierung: worauf kann ich vertrauen? Wie kann ich mich schützen? Was muß ich fürchten? Was hält freiwillige Taten zusammen? - das ist die zugrundeliegende Strömung, die sich durch Zeitablauf allein nicht ändert und die wahre Chronik bildet.“ Alexander Kluge: Die Chronik der Gefühle

Die Arbeit „Quang Trung“ erzählt die Geschichte eines Vietnamesen, der zwischen 1985 und 1989 kurz vor dem Mauerfall in Karl-Marxstadt gelebt und gearbeitet hat. Er hatte in der ehemaligen DDR eine „gute Zeit“ mit positiven menschlichen so wie professionellen Erfahrungen. Er empfand seine Umgebung dort als freundlich, fortschrittlich und modern. Seine eigene Geschichte widerspricht der gängigen, „überlieferten“ Geschichte, in die die ehemalige DDR der 80er Jahre in der Regel als rückschrittlicher Kontrollstaat eingeschrieben ist.

„Bilder der Stadt Vinh / 2009 und 1970er Jahre“ zeigt die Rückseiten von ADN Archivfotos von Wohngebäudeblocks der Stadt Vinh, die durch amerikanische Militärinitiativen während des Vietnamkriegs zerstört und in den 1970er Jahren von der DDR wieder aufgebaut wurde. Diesen Rückseiten stellt Johne eigene neue Aufnahmen der Stadt aus dem Jahr 2009 gegenüber. Die DDR stellte Wirtschaftshilfe sowie Fachkräfte für den Wiederaufbau der Stadt zur Verfügung, gemäß des fortschrittlichen Wohnungsbaus in der DDR in den 60er und 70er Jahren, was auf der Rückseite der Fotos durch kurze Protokolle dokumentiert ist.

Auch bei „Carneval“ handelt es sich um Archivbilder aus der DDR Geschichte. Die großformatigen Abzüge zeigen Fotoaufnahmen einer Stasiveranstaltung von1984, bei der sich Stasimitarbeiter zynischer Weise als eben die Personen verkleidet haben, zu deren Bespitzelung sie beauftragt waren.

Das Meer zwischen Lampedusa und Nordafrika gilt als "neue Grenze" zwischen „Erster“ und „Dritter“ Welt. Hier landen Flüchtlingsschiffe oder oftmals nur noch deren Schiffbrüchige, die bei der Überfahrt gescheitert sind. „Badende, Lampedusa, Cala Croce, 23. August 2009“ zeigt die makabere Idylle eines Badestrandes an dieser Stelle während in „Lampedusa Island“ ein Wachturm, der zur Sichtung und Abwehr von Flüchtlingen dient, in einen romantisch schönen, orange leuchtenden Sonnenuntergang getaucht ist.

Das unverkäufliche "Winterarchiv" von Sven Johne, vielleicht die „persönlichste“ Arbeit der Ausstellung, enthält einen Auszug aus seiner Sammlung von Winterfotos verschiedener Situationen und Landschaften Ostdeutschlands. In den schwarz/weiß Bildern liegt der Schnee, als dämpfende Schicht oder als verzuckernde Decke, über Allem. Das älteste Foto stammt hier von 1946, das jüngste von1986.

Sven Johne ist 1976 in Bergen auf Rügen geboren und hat bis 2006 an der HGB Leipzig bei Timm Rautert Fotografie studiert, seit Ende 2008 lebt er in Berlin.