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"Du wirst auf der anderen Seite nicht fremder sein als auf deiner Seite. Versuche nicht, ein Visum zu bekommen. Man wird es Dir nie erteilen. Schlag die Türen ein, fälsche Papiere, bestich die Zöllner... Auf diese Art weiterzukommen, enthüllt eine andere ‚afrikanische Kunst', die die Europäer nicht kennen: die des Überlebens. Wer weiß, vielleicht kannst du eines Tages die Grenzen einreißen, die die Ausgeschlossenen von den ‚Eingeschlossenen' trennen." (Hassan Musa: Zehn heiße Tipps, wie man kein afrikanischer Künstler wird)

Atlanten, Landkarten und Globen haben seit jeher eine große Anziehungskraft auf Künstler ausgeübt: Geben sie doch – über reine Sachverhalte wie die Darstellung von Kontinenten, Landesgrenzen und geographischen Besonderheiten – auch Zeugnis von der jeweiligen politischen und historischen Lage des betreffenden Landes oder Kontinents. Das "objet trouvé" Landkarte hat Künstler so zu einer Palette von höchst interessanten Arbeiten inspiriert. Eine ähnlich intensive, allerdings höchst ambivalente Beschäftigung haben Künstler gerade in jüngster Zeit den Formularen und Dokumenten der staatlichen Bürokratie angedeihen lassen, die wiederum auf einer anderen Ebene Gebiete und Grenzen festlegen: Ausweise, Aufenthaltsgenehmigungen und Visaformulare fungieren mittlerweile als zeitgemäße Mittel der Kartographie und geben häufig ein genaueres Bild der politisch-sozialen Weltordnung als jeder geographische Atlas. Scheinbar mühelos überschreitet der zeitgenössische Reisende innerhalb weniger Stunden diverse Staats- und Landesgrenzen: Nach dem Fall der Mauer und der Ausdehnung der Europäischen Union ist das Reisen innerhalb Europas sehr viel leichter geworden. Allerdings gilt diese Öffnung nur für diejenigen, die sich bereits in Innern, Mittel- und Westeuropa befinden, oder diejenigen, die aus anderen privilegierten Staaten einreisen wollen. Für alle anderen wird hingegen die Einreise schwieriger: Parallel zur Öffnung nach innen entwickelt sich eine zunehmende Abschottung nach außen. Denn vor einer jeweiligen (Ein)-Reise steht für den Reisenden zunächst der Nachweis seiner "Unschuld" – wie es der französische Ethnologe Marc Augé treffend genannt hat: "Der Passagier gewinnt seine Anonymität (und damit auch die Freiheit, sich zu bewegen) (...) erst, nachdem er seine Identität bewiesen hat (..). In gewisser Weise wird (...) [man] ständig dazu aufgefordert, seine Unschuld nachzuweisen".Unschuld meint im Sinne Augés " neben Liquidität – auch "richtige" Herkunft. Anonymität, die Bewegungsfreiheit garantiert, ist somit häufig ein westlich-kapitalistisches Privileg. Künstler werden mehr und mehr zu professionellen Reisenden, können allerdings im Gegensatz zu vielen ihrer Landsmänner und -frauen meist auf offizielle Einladungen zurückgreifen, sind willkommen und werden erwartet. Dennoch sind es vielleicht auch persönliche Erfahrungen als Reisende "falscher Herkunft", die gerade eine Vielzahl von Künstlern aus außer- und osteuropäischen Ländern dazu veranlasst hat, sich den Themen der globalen Migrationsbewegungen und den Strategien "der Verhinderungen des Reisens" künstlerisch zu nähern. Der Schritt von der singulären individuellen Erfahrung zur allgemeinen kritischen Analyse der aktuellen politischen Situation ist da nicht weit. Die serbische Künstlerin Tanja Ostojic beispielsweise hat einen zwar vielfach praktizierten, aber eher "unbürokratischen" Weg gewählt: Ihr Internetprojekt "Looking for a Husband with EU Passport", bei dem sich auf ihre "Kontaktanzeige" im Internet tatsächlich mehrere hundert mögliche Heiratskandidaten beworben haben, verbindet bis zur letzten Konsequenz Kunst und "wirkliches" Leben: Nach erfolgter Hochzeit und glücklicher Übersiedlung in den Westen arbeitet sie inzwischen folgerichtig bereits am nächsten Schritt – einem auf drei Jahre angelegten "Integrationsprojekt" –, das neben der Hochzeitsgeschichte Element unserer Ausstellung wurde. Als aktueller, zeitgenössischer Teil der ifa-Reihe "Handelsrouten. Kulturwege" widmet sich "Visa" den modernen Reisewegen und -formen, den aktuellen Migrationsbewegungen und den staatlichen und behördlichen Aktion vor der Österreichischen Botschaft in Belgrad Strategien der "Verhinderung des Reisens", die nach dem 11. September 2001 noch mehr an Aktualität gewonnen haben. Vier künstlerische Positionen unterschiedlichster Herkunft: aus Nigeria (Westafrika), der Dominikanischen Republik (Karibik), Chile (Lateinamerika) und Serbien (Osteuropa) befassen sich teilweise direkt mit den Objekten der Verhinderungsstrategie – wie Emeka Udembas Aufnahmen der Wartezonen ausländischer Botschaften in Lagos zeigen – oder weisen eine transformierte, eine übertragene Behandlung der Thematik auf.

Der chilenische Künstler Edgar Endress agiert weniger als "Betroffener", sondern als offenbar analytischer Beobachter und Archivar individueller Biografien von illegalen Migranten, die aus Haiti oder der Dominikanischen Republik in seine Wahlheimat USA fliehen. Den heutigen Migrationsbewegungen in der Karibik steht die Geschichte der Sklaven, die bereits im 18. Jahrhundert entlang der berüchtigten Sklavenroute über die Dominikanische Republik nach Amerika verschleppt wurden, gegenüber: Marcos Lora Read, diesjähriger Repräsentant der Dominikanischen Republik auf der Biennale Venedig, bearbeitet in seinen Installationen und Objekten die Heimatlosigkeit und das im wörtlichen Sinne "Unbehaustsein" vieler Migranten auch in Anbetracht dieses geschichtlichen Hintergrundes. Pressetext

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Visa oder die Verhinderung des Reisens

mit Tanja Ostojic, Edgar Endress, Marcos Lora Read, Emeka Udemba

Stationen:
09.04.03 - 01.06.03 ifa-Galerie Bonn
27.06.03 - 17.08.03 ifa-Galerie Stuttgart