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Visionäre Schweiz Das ist kein polemisches Buch und keine polemische Ausstellung. Es ist eine Hommage an eine bestimmte Art von Kreativität, die, ohne das Schweizerische strapazieren zu wollen, mit diesem Land und dieser Landschaft verhaftet ist. Eine bestimmte Art von Kreativität? Kreativität als Diskurs in der Enge wie es Paul Nizon einmal formulierte, oder Kreativität als Flucht aus der Wirklichkeit eines kleinen Landes, als Kompensierung zur Enge, als erkämpfter Freiraum in der Enge eines über Jahrhunderte heilgebliebenen mitteleuropäischen Kleinstaates. Kreativität als Attacke auf den Sonderfall Nationalpark Schweiz? Kreativität als freischwebendes Tun? Und was dieser Triebfacettentriebe mehr sind. Und doch ist alles anders! Die Strahlkraft der Alpen, die magnetischen Anomalien, der Hang zum Sektentum im Voralpengebiet, die Dialekte, die Vielsprachigkeit, die abrupten Wechsel von Katholizismus zu Protestantismus, die Dezentralisierung haben in der Kunst dieses Gebietes, dieser Barriere zwischen Nord-Süd mit der relativen Offenheit gegen Norden, Osten und Westen, Konditionierungen geschaffen, die das Einzelgängertum begünstigen. Und Einzelgängertum beinhaltet die Entwicklung einer eigenen Innenwelt, den Rückzug von der res publica, von der Gesellschaft. Die Belohnung für diese conditio humana ist eine eigene Theologie, oder eben eine Vision, die Gabe des zweiten Gesichts, die nicht zu verwechseln ist mit der Utopie, der stets eine soziale gesellschaftliche Gesamtschau zugrunde liegt. So bleibt die grösste Utopie weiterhin die ideale klassenlose Gesellschaft im Zeichen von Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit.

Aloïse (Aloïse Corbaz) Esther Altorfer Adolphe Appia Karl Ballmer Karl Bickel Arnold Böcklin Christian Boltanski Johann Michael Bossard Gilbert Clavel Max Daetwyler Martin Disler Henry Dunant Niklaus von Flüe Johann Heinrich Füssli Alberto Giacometti Augusto Giacometti Werner Hertig Ferdinand Hodler Franz Huemer, Ettore Jelmorini Paul Klee Emma Kunz Richard Paul Lohse Bernhard Luginbühl Ingeborg Lüscher Annemarie von Matt Mario Merz Marisa Merz Otto Meyer-Amden Heinrich Anton Müller Robert Müller Niederhäusern-Rodo Hermann Obrist Meret Oppenheim Walter Peter Markus Raetz Dieter Roth Ernst Georg Rüegg, Armand Schulthess Louis Soutter Daniel Spoerri Walter Arnold Steffen Robert Strübin Sophie Taeuber-Arp Jean Tinguely Niele Toroni Albert Trachsel Félix Vallotton Ben Vautier Bruno Weber Ilse Weber Walter Kurt Wiemken Eva Wipf Caspar Wolf Adolf Wölfli

Diese Ausstellung ist Teil einer Reihe thematischer Ausstellungen, die mich in den letzten Jahren beschäftigt haben: die Junggesellenmaschinen als das solipsistische Denkmodell des Regelkreises mit stets gleichbleibender zirkulierender Energiemenge als wesentliche Inspirationsquelle der Moderne; der Monte Verità als lokalisierbares Kondensat aller Utopien, im Dienste des Wahren, Einfachen, gottnahen Lebens, der sozialen Utopie, der organischen Reform, der alternativen Existenz; der Hang zum Gesamtkunstwerk als übergeordneter künstlerisch bestimmter Inhalt europäischer Utopien. Bei der Vorbereitung zu diesen Ausstellungen wurde die Versuchung wach, über die Kontinuität schweizerischer Eigenwilligkeit und Eigenständigkeit in der Kunst eine eigene Untersuchung anzustellen. Um so mehr als der Versuch scheiterte, die Schweizer Gesamtkunstwerker unbesehen in die anderen Unternehmen zu integrieren.

Am besten gelang dies noch mit Emma Kunz, Heinrich Anton Müller, Robert Müller und]ean Tinguely in die Junggesellenmaschinen, mit Armand Schulthess in Monte Verità, mit Henry Dunant in Hang zum Gesamtkunstwerk. Aber bei den Vorbereitungen zu letzterer Ausstellung, getragen vom guten Willen, einige Schweizer in das Konvolut europäischer Utopien aufzunehmen, regte sich stets im letzten Moment ein starker Widerstand. Was war es denn, was die Schweizer Gesamtkunstwerker so sehr von den Deutschen, den Italienern, den Russen unterschied? Es war weder die obsessionelle Intensität noch die Grossartigkeit der Entwürfe. Es war und ist - mit Ausnahme vom jungen Henry Dunant - ganz schlicht und einfach das Fehlen der sozialen Dimension in ihrem Hang zum Umfassenden.

Ein Richard Wagner, ein Alexander N. Skrjabin, ein Kasimir Malewitsch, ein Joseph Beuys, sie alle erträumten sich und wollten eine Gesellschaft, die ihre Botschaft unmittelbar verstünde, eine Gesellschaft der Zukunft, die dem «Kunstwerk der Zukunft» entspräche, also der Union der Künste, die in ihrem Zusammengehen eine neue Harmonie in der Zukunft bereits in sich enthielte. Entweder war der Schweizer Künstler als Teil eines Idealstaates, der funktioniert(e), durch soziale Anliegen weniger belastet, oder was Arnold Rüdlinger einmal in bezug auf die Berner Künstler als «Die schlichte Uninteressiertheit (Berns) sichert zwar keine Unterstützung jedoch die nötige Toleranz» formulierte, gab den nötigen Freiraum, aber entband auch vom Engagement. Und vielleicht schwang stets mit, was als Gefahr hinter der Gesamtkunstwerksvorstellung lauert: «Würden die Wunschträume und Ideen imaginierter Zusammenhänge realisiert, also der Gesellschaft aufoktruiert, würde daraus, wie gehabt, der totalitäre Staat und das bedeutet(e) die Arretierung der individuellen, libidinösen und geistigen Impulse».

Das Pathos wird ins eigene Ich zurückgenommen, die Aussenwelt mit Appellen fehlgeleitet, um das eigene Gemach dafür um so intensiver zu bearbeiten. Verletzlich. Die «Enzyklopädie im Walde» eines Armand Schulthess ist in dieser Beziehung Musterbeispiel. Seine Appelle sind Einbahnstrassen: die überall präsente Suche nach Kommunikation besteht aus falschen Telefonnummern, das Kraftwerk ist eine Junk-Skulptur, die nur in der Imagination funktioniert, das Zimmer für die Braut ist so überfüllt, dass sie sich gar nicht darin hätte bewegen können. Johann Michael Bossard, Deutscher geworden, träumt zwar, dass seine Kunststätte die Jugend(bewegung) in die Heide lockt, doch sie war so abgelegen und sein Arbeitsrhythmus so enorm, dass sicher grössere Ansammlungen von Menschen ihn eher gestört hätten. Und fast wie eine Vorwegnahme des Monte Veritanischen Credos «Durch Absonderung zur Beispielhaftigkeit» ist Niklaus von Flües Leben zu sehen. Sein Meditationsbild in Form einer geschlossenen Radfigur, deren sechs Speichen sowohl nach innen wie nach aussen weisen, zu den Sinnen und von ihnen zum Mysterium hin, ist fast das Symbol unserer hier gezeigten bestimmten Art von Kreativität, voll inneren Atmens wie sein Mandala, aber nach aussen allseitig umschlossen. Aber keine andere spirituelle Kultur kann ein solches atmendes «Mandala» aufweisen. Wie komplex und lehrhaft sind daneben Henry Dunants «Symbolisch-chronologische Diagramme einiger Prophezeiungen der heiligen Schrift» mit dem «Ablauf der ganzen Weltgeschichte vom Urbeginn bis zu den kommenden göttlichen Welten», wenn die «Zeit des Individuums», in der wir jetzt leben, abgelöst wird durch die «Zeit der Vielen», das «Zeitalter der Herrschaft Christi auf Erden als Messias».

Eine Ausstellung wie diese lebt aber nicht nur von unseren Propheten und Friedensaposteln wie Dunant und Max Daetwyler, Heiligen wie Niklaus von Flüe, Outsidern wie Walter Steffen, genialen Sonderlingen und Spinnern, hedonistischen Skulpturenparkschöpfern wie Bruno Weber, «artistes bruts» wie Aloïse, Heinrich Anton Müller und Adolf Wölfli - von letzteren meinte Jean Dubuffet, dass, wenn Schweizer verrückt sind, sie besonders schöpferisch sind - sondern auch durch ihre Konfrontation mit den Künstlern, denen in unterschiedlichem Mass die öffentliche Anerkennung zukam, also unseren Grossen wie Johann Heinrich Füssli, Caspar Wolf, Arnold Böcklin, Ferdinand Hodler, Félix Vallotton, Augusto Giacometti, Paul Klee, Otto Meyer-Amden, Alberto Giacometti, Sophie Taeuber-Arp, Richard Paul Lohse, Walter Kurt Wiemken, Meret Oppenheim. Eine wahre Phantasieexplosion bescheren der Schweiz und der internationalen Kunst die seit 1920 geborenen Künstler: Robert Müller, Jean Tinguely, Daniel Spoerri, Dieter Roth, Ben Vautier, Bernhard Luginbühl, Mario Merz, Marisa Merz, Ingeborg Lüscher, Niele Toroni, Markus Raetz, Martin Disler.

Und von der Warte des Visionären aus wird vielleicht der Beitrag einer Frau in seiner ganzen Tragweite wahrgenommen: Emma Kunz führt mit der direkten gestalterischen Einwirkung ihrer geistigen Kräfte auf die Natur durch die Polarisierung von Blumen nach ästhetischen Kriterien jegliche phänomenologische Interpretation durch Kunst ad absurdum. Aber auch andere Stille im Lande wie Ernst Georg Rüegg, Karl Ballmer, Karl Bickel mit seinem PAXMAL, der Musikbildner Robert Strübin, der Tessiner Steinmetz Ettore Jelmorini, Annemarie von Matt, Ilse Weber, Eva Wipf, der Pendler Werner Hertig und Esther Altorfer finden hier ihren Ort. Besonders hervorzuheben ist die Genfer Situation um 1900 - Adolphe Appias wegweisende Bühnenbildentwürfe, Auguste de Niederhäusern - Rodo's Projekt eines «Poème alpestre» in Form einer Versammlungsstätte für hunderttausend Menschen im Jungfraumassiv und Albert Trachsels Tempelentwürfe als «Les Fêtes réelles».

Und in München ist hinzuweisen auf Hermann Obrists kühne Plastiken in Form visionärer Architekturen. Kein Stil wird also hier propagiert - weder Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus, Surrealismus, Konstruktivismus, Konkrete Kunst - sondern die Aufmerksamkeit gilt der Tatsache, dass der Visionär sich für die Übertragung seiner Gesichter neue Techniken, Methoden, plastische Dimensionen wie die Bewegung erfindet, oder dass sie ihm zufallen. Louis Soutter mit seiner Fingermalerei und Gilbert Clavel, der seinen Gestaltungstrieb dem Fels einsprengt, sind überragende Zeugen dieser Erkenntnis.

Doch zurück zu unserer Feststellung, dass, mit einigen Ausnahmen, kaum gesamtgesellschaftliche Entwürfe - wie sie zum Beispiel der junge Richard Lohse noch einbezieht - zu finden sind. Von daher ist erklärlich, dass zwei Ausländer zur Ausstellung eingeladen wurden, als eine Grenzüberschreitung nach Osten und eine nach Westen. Im Osten, ein paar Kilometer nach der Grenze bei Feldkirch, arbeitet der erste Gast, der Wurzelplastiker Franz Huemer, der seine Visionen, die er in der Natur wiederfindet, aus ihr gestaltet. Katholizismus, Vorarlberger Barock, Krieg, Gefangenschaft, Krankheit sind prägende Kräfte, die sein «Bildfunksystem» nähren. Im Westen ist es der Franzose Christian Boltanski, mit seiner «Réserve des Suisses morts», den toten Schweizern, deren Tod er furchtbarer findet als den der Juden, bei deren Erwähnurig jedermann an ihren Tod denkt, «weil sie - die Schweizer - keine Geschichte haben». Dafür hat dieses Land wie kaum ein anderes eine Kontinuität in einzelgängerischen Leistungen, die Realität ist. Keine Theorie wird hier dazugeliefert, schon eher wird eine Geschichte erzählt, durch das Mittel der Ausstellung ein Geisteszustand evoziert und Existenzform sichtbar gemacht. Eine neue Form der Weihnachtsausstellung als Teil des Museums der Obsessionen.

Die Ausstellung wird in veränderter Form von Madrid und Düsseldorf übernommen. In Zürich sind die bekannteren Künstler lediglich mit ein oder zwei Werken vertreten, die weniger bekannten, abseitigeren Entwürfe werden ausführlicher gezeigt. In Madrid und Düsseldorf dient die Ausstellung auch der Information über das Werk unserer im Ausland noch wenig bekannten Künstler. So ergibt sich hoffentlich von selbst eine Korrektur in Richtung Anspruch a-historischer Intensität. Leider war es nicht möglich, an Niklaus Manuels «Johannesenthauptung» das Umkippen um 1500 von einer merkurorientierten Konstellation ins Saturnzeitalter zu zeigen, also des Verlassens der Illustration, in diesem Falle der «Legenda aurea», zugunsten persönlicher Mythenbildung durch Befreiung der Symbole und Zeichen aus ihrem religiösen Kontext, und ebensowenig in der Raumkunst Hannes Meyers Architekturvision oder Le Corbusiers Wegmystik. Es bleibt noch viel zu tun.

Harald Szeemann

Aus Anlass der Ausstellung VISIONÄRE SCHWEIZ im Kunsthaus Zürich 1. November 1991 bis 26.Januar 1992 und in der Städtischen Kunsthalle und im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 26. Juni bis 30. August 1992

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Visionäre Schweiz
Kurator: Harald Szeemann

Künstler: Aloïse , Esther Altorfer, Adolphe Appia, Karl Ballmer, Karl Bickel, Arnold Böcklin, Christian Boltanski, Johann Michael Bossard, Gilbert Clavel, Max Daetwyler, Martin Disler, Henry Dunant, Niklaus von Flüe, Johann Heinrich Füssli, Alberto Giacometti, Augusto Giacometti, Werner Hertig, Ferdinand Hodler, Franz Huemer, Ettore Jelmorini, Paul Klee, Emma Kunz, Richard Paul Lohse, Bernhard Luginbühl, Ingeborg Lüscher, Annemarie von Matt, Mario Merz, Marisa Merz, Otto Meyer-Amden, Heinrich Anton Müller, Robert Müller, Rodo de Niederhäusern, Hermann Obrist, Meret Oppenheim, Walter Peter, Markus Raetz, Dieter Roth, Ernst Georg Rüegg, Armand Schulthess, Louis Soutter, Daniel Spoerri, Walter Arnold Steffen, Robert Strübin, Sophie Taeuber-Arp, Jean Tinguely, Niele Toroni, Albert Trachsel, Félix Vallotton, Ben Vautier, Peter Walter, Bruno Weber, Ilse Weber, Walter Kurt Wiemken, Eva Wipf, Caspar Wolf, Adolf Wölfli

Stationen:
Kunsthaus Zürich
Kunsthalle Düsseldorf
Reina Sofía, Madrid