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Das Kunstmuseum Singen macht mit seiner Sommerausstellung aufmerksam auf einen zu Unrecht viel zu wenig bekannten Maler und Grafiker des deutschen Spätexpressionismus. Walter Becker (1893-1984), der „Musiker unter den Expressionisten“ (Gerd Presler), trat zunächst als expressionistischer Grafiker und versierter Illustrator großer Werke der Weltliteratur hervor, bevor er sich, spät, der Malerei zuwandte. Zahlreiche stilistische Einflüsse verarbeitend schuf er ein kraftvoll farbiges, expressiv gestaltetes, flächenbetontes Werk ganz eigener Prägung, dessen Spannweite von stiller Melancholie bis zu ungestümer Vitalität reicht. Seine Bildwelt speiste sich aus Seherlebnissen, Erinnerungen, Träumen und aus der griechischen Mythologie. Rund 90 Arbeiten, fast ausschließlich Figurenbilder, aus allen Schaffensphasen geben einen Einblick in die Werkentwicklung Walter Beckers und beleuchten seinen eigenwilligen Beitrag zur Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert.

Walter Becker (1893-1984), geboren in Essen, ausgebildet als Grafiker an der dortigen Kunstgewerbeschule (1913) und an der Karlsruher Kunstakademie (1915-1918) bei Walter Conz (1872-1947), trat zuerst als Mitglied der Heidelberger „Gemeinschaft“ um den Kunstwissenschaftler Wilhelm Fraenger (1890-1964) und der avantgardistischen Ausstellungsgemeinschaft „Gruppe Rih“ in Karlsruhe hervor, bevor er 1922/23 an die Kunstakademie Dresden in die Meisterklasse des Bildhauers und Malers Karl Albiker (1878-1961) wechselte. In den Zwanziger Jahren trat er als ebenso vielseitiger wie geistreicher Zeichner und Grafiker hervor, der bibliophile Buchausgaben (Jean Paul, Gogol, E.T.A. Hoffmann, Dostojewski usw.) mit gewitzten Illustrationen ausstattete. Die Fachwelt und das Publikum zollten ihm dafür hohe Anerkennung. Den Traum des Südens träumte Becker früh: Mit seiner 1923 angetrauten Frau Yvonne, der Adoptivtochter des Malers Leo von König (1871- 1944), verbrachte er, so Becker, „die schönsten Jahre meines Lebens“ von 1923 bis 1936 in Cassis-sur-Mer in Südfrankreich, in Paris und Italien. Die 1930er / 40er Jahre beschrieb der an einem Lungenleiden erkrankte, 1936 aus Südfrankreich „vertriebene“ Walter Becker rückblickend als „zwanzig Jahre ziellose Arbeit“. Erst in Tutzing am Starnberger See und ermuntert durch Ludwig Hoelscher, den bekannten Cellisten, und dessen Frau Marion gelang die Hinwendung zur Malerei, zur Fläche, zur kräftigen, „reinen Farbe“ der französischen Fauves und den Künstlern der „Brücke“ und des „Blauen Reiter“: „Ich fing noch einmal von vorne an, auf großen präparierten Rupfenflächen, mit Kompositionen in der einfachsten Form, in der einfachsten Farbanlage; ich versuchte musikalisch einen Klang zu bilden...“ (Becker). Diese Malerei, meist Akte, Interieur- und Straßenszenen, sowie der Eintritt in das Ausstellungswesen der Nachkriegszeit führten zur Berufung als Professor für Malerei an die Karlsruher Kunstakademie (1952-1958), einer Domäne gegenständlicher Kunst. Der Höhepunkt des Oeuvres datiert in das Jahrzehnt 1958 bis 1968. Das vorläufige Ende der Malerei 1968 fällt mit der zunehmenden Erblindung zusammen. „Seine Themen kreisen um die Einsamkeit des Menschen, sein Bemühen, diese Einsamkeit zu durchbrechen und zur Harmonie mit den Mitmenschen zu kommen...“ (Hans H. Hofstätter). Stilisierte Tänzerinnen in rhythmischer Ordnung, Stillleben, Portraits, einige wenige Landschaften, formale Experimente im Medium der Druckgrafik, als unbestrittene Höhepunkte die Serien der archaischen, leuchtend farbigen „Blauen Akte“ und mythologischen Bilder (Odysseus, Herakles, Hypnos und Thanatos) charakterisieren diese Periode: „Wie durch ein Wunder konnte ich eine Anzahl Bilder malen, die den Traum meines ganzen Lebens darstellen, indem ich nicht vom Objekt ausging, sondern von den Emotionen....“ (Becker). Wiesen bereits die späten mythologischen Bilder ungewöhnliche Bildformate, Stofflichkeit der Farbe, ortlosentmaterialisierte Räume, überlängte, mitunter „fliegende“ Figuren, kühne Farbkonstellationen, senkrechte Richtungs- und abstrahierte Bewegungslinien und zeichenhafte Verknappungen auf, so verstärkten sich diese „magischen“ Tendenzen noch einmal in Beckers letzten, eigenwilligen Gemälden, die der nahezu erblindete Künstler ab 1974 in einem Seniorenstift in Dießen am Ammersee – auf Wachstüchern malend – schuf. 1984 verstarb Walter Becker. Sein Nachlass wird heute von Andreas Hoelscher betreut; sein Werk wurde und wird – flankiert von Überlegungen zur „Revision der Moderne“ – u.a. von Henri Nannen, Joseph Hierling, Rainer Zimmermann und Gerhard Schneider sowie dauerhaft im Museum Ettlingen und in der Kunsthalle Schweinfurt vermittelt.

Der vormalige Vorsitzende des Kunstvereins Singen Paul Gönner schätzte Walter Beckers Werk hoch und veranstaltete in den 1980er Jahren mehrere Einzel- und Gruppenausstellungen mit Werken des Künstlers in Singen und der Region. Werke des Künstlers finden sich folglich in Sammlungen der Region, u.a. im Kunstmuseum Singen und in der Sparkasse Hegau-Bodensee, aber auch in zahlreichen Privathaushalten. Walter Becker und die „Künstler der Höri“ teilen eine vergleichbare Biographie und Rezeptionsgeschichte. Mit dem Wegfall ideologischer Trennlinien seit 1990 ist es möglich, die gesamtdeutsche Kunstgeschichte neu zu befragen und zu schreiben. Zu diesem Gesamtbild, das aus vielen Mosaiksteinen neu zusammengesetzt wird, leistet das Kunstmuseum Singen mit der Ausstellung „Walter Becker. Traum und Wirklichkeit.“ einen Beitrag.

Zur Ausstellung erscheint: Ingrid von der Dollen: Walter Becker 1893-1983. Traum und Wirklichkeit. Malerei und Grafik (Veröffentlichung des Förderkreises Expressiver Realismus e.V., München, 9). 2. erweiterte Auflage, Tutzing 2018, 152 S., 135 Abb., € 18.--.