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Wo bitte geht’s zum Öffentlichen?, eigentlich ist die Frage absurd, die der Ausstellungsmacher Martin Henatsch als Motto für den Kunstsommer Wiesbaden 2006 gewählt hat. Öffentlichkeit, Stadtplanung, Zukunftsgestaltung und Kunst – was haben diese Bereiche miteinander zu tun? Wo soll „die Öffentlichkeit“ liegen? Und Künstler sind doch keine Stadtplaner! Aber Künstler haben einen besonderen Zugang zu Übergangsräumen und sind Vordenker einer urbanen Offenheit, somit Spezialisten für ein städtebauliches Terrain in der Entwicklung. Am 7. Juli 2006 wird das Kunstprojekt zwischen Hauptbahnhof und Schlachthof als vierter Wiesbadener Kunstsommer eröffnet. Veranstalter ist das Kulturamt der Landeshauptstadt Wiesbaden.

Das Ausstellungsprojekt sucht die Verbindung mit einem Stadtgebiet, das im Umbruch ist: das Gelände zwischen Wiesbadener Bahnhofsplatz und dem angrenzenden Kulturzentrum Schlachthof, Theodor Heuss-Ring und der Mainzer Straße. Das im Wandel befindliche Stadtgebiet zwischen Schlacht- und Bahnhof birgt historische, soziale und kulturelle Spannungen. Hier prallen unterschiedliche Welten aufeinander. Der frisch renovierte Kopfbahnhof mit seiner neu angelegten Parkplatzordnung trifft auf den verfallenen Wasserturm. Die Pracht der Weltkurstadt befindet sich im Widerstreit mit der Sprayer- und Skaterszene auf dem KUK-Gelände.

17 Vorschläge für Kunstprojekte im öffentlichen Raum gehen der Geschichte und Zukunft dieses städtebaulichen Erwartungsraums nach. Sie spüren aktuelle und historische Reizthemen auf, stellen Grenzen zur Diskussion und fordern Meinungsvielfalt ein. Die Projekte sind ortsbezogen und eigens für diesen Wiesbadener Kunstsommer entwickelt. Die Künstler stellen Fragen an Öffentlichkeit und zum Öffentlichen. Zugleich stellen sie sich der Öffentlichkeit. Ihre Fragen sind sowohl an die Bewohner der Stadt, an die Besucher der Ausstellung als auch an das Fachpublikum, Stadtplaner, Politiker und Medien gerichtet: mal radikal und bissig, mal poetisch, stets bildhaft und hintergründig.

Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog. Die Ausstellung wird durch eine Video-Podcast-Dokumentation von einfallsreich t.v www.einfallsreich.tv begleitet .

Thorsten Goldberg: Milch + Honig + geboren 1960 in Dinslaken http://www.goldberg-berlin.de Eine Topografie paradiesischer Orte: Wo bitte geht’s zum Schlaraffenland? 1694 erschien die „Accurata Utopiae Tabula“, mit der sich der Berliner Künstler Thorsten Goldberg seit 2003 beschäftigt: Eine historische Karte vom Schlaraffenland, die genau aufzeigt, wo Milch und Honig fließen, Schweine bereits gebraten durchs Land laufen und Frauen ewig jungfräulich bleiben. Hatte Goldberg bereits in früheren Projekten, etwa in einer Berliner U-Bahnhaltestelle, eine „Tabula“ mit Wegweisern und Legenden zu paradiesischen Orten installiert oder eine entsprechende Haltestelle wie „Galgenvogel“ oder „Sauvol“ eingerichtet, geht er in Wiesbadener Projekt einen Schritt weiter und verspricht die Errichtung eines Schlaraffenlandes. Goldberg nutzt dazu vertraute Codes und Zeichen, um sie subtil - und angesichts des Wiesbadener Umfeldes - nicht ohne Ironie zu befragen. Ein Rahmen erstrahlt, einer Aureole gleich, hoch über dem Boden. Ist es ein Werbeschild oder eine Bauankündigung? Fast unsichtbar in weißer Neonschrift wird darin wahrlich Verlockendes versprochen: „Flüsse aus Wein + Bier + Strassen aus Ingwer + Jeder ist vollkommen schön an allen Gliedern...“. Diese „große Versprechung“ kontrastiert mit einer ausgehobenen Baugrube, die das in Wiesbaden erst kürzlich gegrünte Parkstück provozierend aufbricht. Auf ihrem Grund haben sich die Gräser einer Wildwiese ausgebreitet - als Zeichen einer sich selbst überlassenen Natur.

Takafumi Hara: Signs of Memory 2007 geboren 1968 in Tokio http://www.takafumihara.com/ Projekt-Leitung: Maho Wada Fenstergespräche im Wasserturm Seit zehn Jahren arbeitet Takafumi Hara zusammen mit seiner Partnerin Maho Wada an der Projektreihe „Signs of memory“. Das Projekt führt den japanischen Künstler an unterschiedliche Orte zwischen Japan, Berlin und Münster. Interviews mit den Bewohnern oder Nutzern der Gebäude bilden die Grundlage der künstlerischen Arbeit. Auch in Wiesbaden sucht Takafumi Hara nach Geschichten und persönlichen Perspektiven, die in dieses Areal eingeschrieben sind - nach Lebensgeschichten, die sich aus den Veränderungen, Wünschen und Zukunftsvisionen ableiten. Die Interviews werden auf wenige Sentenzen verdichtet und zusammen mit umrisshaften Porträts der Gesprächspartner passgenau auf leuchtend pinkfarbige Tafeln in die Fenster der auf dem Areal befindlichen Gebäude (z. B. Bahnhof und Wasserturm) eingefügt: als Signaturen einer individuell vermittelten Öffentlichkeit und Ergebnis einer kulturellen Transformation.

Rudolf Herz: Schenken Sie sich fünf Minuten. Es ist noch nicht zu spät.“ geboren 1954 in Sonthofen/Allgäu http://www.rudolfherz.de Schenken Sie sich fünf Minuten! Für komplexe Thesen, die zu erklären andere ganze Buchreihen benötigen, genügt Rudolf Herz ein schlichter und wohlüberlegter Handgriff. Unaufdringlich aber unübersehbar kommen seine künstlerischen Arbeiten daher, die sich um die großen soziophilosophischen Themen am Schnittpunkt von Kunst, Geschichte und Gesellschaft bewegen - nicht selten mit einiger politischer Sprengkraft. Für den Kunstsommer 2006 rückt der in München lebende Konzeptkünstler einem Phänomen zu Leibe, das unser Leben bestimmt wie kein zweites: das unbarmherzige Ticken der Uhr, der nervöse Antrieb einer chronisch unter Zeitmangel leidenden Gesellschaft. Mit einfacher Geste will Rudolf Herz die Wahrnehmung derer modifizieren, die eilig unterwegs zu Bus und Bahn sind. Denn Zeit ist Geld, und wer wenig Zeit hat, ist zugleich sehr gefragt, also besonders wichtig. Herz möchte den Passanten des Wiesbadener Bahnhofs fünf Minuten Zeit schenken. Versetzte uns nicht eben noch der Blick auf die Turmuhr des Bahnhofs in Schrecken? Wo ist die Zeit geblieben? Nun wiegt uns das Plakat vor dem Bahnhof in Sicherheit: Schenken Sie sich fünf Minuten, stellen sie sich vor, die Bahnhofsuhr ginge falsch, es ist noch nicht zu spät.

Anja Jensen: Hiddenbrooke geboren 1966 in Gehrden www.f5komma6.de/AnjaJensen.html „Gated Community“: Nobler Sperrbezirk auf dem Schlachthof Anja Jensen beschäftigt sich in ihren Kunstprojekten mit den technisierten Kontrollmechanismen der Gesellschaft. Ihre fotografischen Bilder ebenso wie die skulpturalen Installationen sprechen vom Unheimlichen und einer dahinter aufscheinenden Sehnsucht nach Sicherheit durch Überwachung und Kontrolle. „Hiddenbrooke“ schafft einen solchen Ort. Inmitten eines urbanen Brachlandes installiert Anja Jensen die Fassade einer scheinbar perfekt abgesicherten „modernen“ Luxusvilla. Makellos und staubfrei funktioniert die Baufassade in einem künstlich angelegten Sperrbezirk. Umgeben von Bauschutt und öder Wüstenei wirkt sie wie eine provokative Demonstration von Selbstherrlichkeit. Oder ist es ein Aufruf zur Investition in einem viel versprechenden Stadtquartier, das als „Gated Community“, als durch Mauern gesicherter Sperrbezirk, selbst an sozialen Brennpunkten noch Sicherheit verspricht? Um ganz sicher zu gehen, setzt Jensen ihrer Vision von Stadtvilla – oder ist es ein Wachturm? – einen Suchscheinwerfer auf das Flachdach, der bei Dunkelheit mit gleißendem Strahl das Gelände abtastet. Eine abgründige Vision gesellschaftlichen Zusammenlebens – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Peter Johansson / Barbro Westling: Kaiserpanorama geboren 1964 / 1956 in Schweden Private Einsichten in das Öffentliche Seit Beginn der achtziger Jahre haben die zwischen Installation, Skulptur und Performance changie-renden Arbeiten von Peter Johansson nichts von dem schneidig-bissigen Humor eingebüßt, mit dem das Enfant Terrible der schwedischen Gegenwartskunst Traditionen, Klischees und Vorurteile atta-ckiert. Zusammen mit seiner Partnerin Barbro Westling plant er für Wiesbaden ein skulpturales En-semble, das mit spitzbübischem Grinsen überholte gesellschaftliche Konventionen kommentiert – denn die „Kaiserpanorama“ betitelte Installation entbehrt jeglicher hochherrschaftlicher Würde, die ihr Titel doch eigentlich vermuten ließe. Etwa 50 eng zusammengerückte, völlig unaristokratische, bau-stellenübliche Dixi-Klos sollen zu einem kreisförmigen und undurchdringlichen Schutzwall zusam-mengestellt werden. Jedoch, die umgangssprachlich „Öffentlichen“ werden ihrer Öffentlichkeit so ganz und gar beraubt, denn die Eingangstüren weisen nach innen und werden nicht erreichbar sein. Somit sind die Toiletten für den Passanten unbenutzbar. Doch demjenigen, den der Blick auf eine im mehrfachen Sinne private Sphäre reizt, bietet das „Kaiserpanorama“ vielversprechende Möglichkeiten der Befriedigung voyeuristischer Neugier: In den Rückwänden der Toiletten befinden sich kleine, unauffällige Gucklöcher. So ist der Blick ins „Öffentliche“ also doch noch möglich, auch wenn er plötzlich ziemlich privat scheint. Denn wer wollte nicht wissen, was sich dort unter der Regie dieses Künstlerpaares inmitten der „Öffentlichen“ abspielt?

Klasse Löbbert: Kurhaus Klasse für Bildhauerei, Kunstakademie Münster, Hochschule für Bildende Künste Zur öffentlichen Anwendung: Bahnhofsunterführung wird zum skulpturalen Bar-Environment Entsteht hier ein zweites Kurhaus für Wiesbaden? Hier, in der verkehrsumtobten Unterführung unter dem Bahnhofsplatz, an einer der meist frequentierten Wegstrecken zwischen Bahn und Bus, Innenstadt und Gleisanschluss, Reisinger Anlagen und Schlachthof im „Kellergeschoss“ Wiesbadener Verkehrsströme? Ist das wohl der richtige Standort für ein Kurhaus, einer doch eigentlich dem körperlich-geistigen Regenerieren vorbehaltenen Einrichtung! An diesem Ort mit viel diskutierter städtebaulicher Perspektive – Möglichkeiten zwischen endgültiger Schließung und edler Designausstattung waren im Gespräch – will die Kunstakademie-Klasse des Münsteraner Professoren-Duos Maik und Dirk Löbbert eine Kurstätte besonderer Art errichten: ein skulpturales Environment, das zugleich während der ersten 10 Tage des Kunstsommers als Bar zur Verfügung steht - für den morgendlichen Espresso oder den abendlichen Sundowner, für Performance und Gig. Das temporäre Tunnelprojekt bewegt sich auf der Grenze zwischen Event und Skulptur, szenigem Bar-Ambiente und raumbezogener Rauminstallation. Am quirligen Ort des Übergangs entsteht ein Kurhaus der anderen Art, das mit „öffentlichen Anwendungen“ mitten im Leben der Stadt zum Kristallisationspunkt von Öffentlichkeit wird.

Susanne Kutter geboren 1971 in Werningerode http:// www.susannekutter.de Eine Video-Kutter-Fahrt in die Unterwelt des Salzbachs Die in Berlin lebende Künstlerin, deren Arbeitsweise zwischen Video und Performance, trashiger Installation und ortsbezogenen Inszenierungen changiert, plant für ihren Wiesbaden-Beitrag eine zunächst unspektakulär wirkende Erkundungsfahrt in die Unterwelt des Schlachthofgeländes. In Anspielung an ihren Namen wird sie einen Modellboot-Kutter mit Namen „Susanne“ auf den Salzbach schicken, der das Ausstellungsgelände in weiten Teilen unterquert. Mit Scheinwerfer und Videokamera ausgestattet, wird das Boot seine Erkundungsfahrt aufnehmen, um die bisher der Öffentlichkeit verborgenen Bilder ans Tageslicht zu bringen. Die bisherigen filmischen Arbeiten der Künstlerin unterliegen stets einer eigenen Dynamik, nehmen häufig einen unaufhaltsamen, bisweilen katastrophalen Lauf. Man darf gespannt sein, was Susanne Kutter in Wiesbaden ans Tageslicht bringt.

Jürgen Lemke: ORTungen 2006: Schlachthof Wiesbaden geboren 1956 in Dortmund Was ist öffentlich? Was ist privat? Eine Verortung! „ORTungen 2006“ ist der Titel des Projektes, das Jürgen Lemke für Wiesbaden plant. „ORTungen“ ist für den Münsteraner Künstler mehr als ein Titel: eine Methode, mit er seit vielen Jahren arbeitet und die den historisch geprägten Ort der künstlerischen Interpretation zum Ausdrucksträger aktueller Zeitläufe erklärt. Der ausgewählte Ort – oft in einer Situation des Wandels und Übergangs – wird zur Bühne einer sorgfältig gesetzten und dialogisch angelegten Inszenierung. Hierbei spielen nicht nur architektonische und landschaftliche Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle, sondern auch ehemalige oder aktuelle Nutzer. Auf dem Wiesbadener Schlachthofgelände wird Lemke Inszenierungen der Arbeitsorte der dort aktiven Musiker, Künstler und Skater vornehmen: live am Eröffnungsabend, medial mittels Trailern und dokumentarisch in Form einer installativen Präsentation der Live-Inszenierung des Eröffnungsabends direkt in dem Schlachthof. Gleichzeitig werden die Inszenierungen an unterschiedlichen Orten im Stadtraum auf Bildschirmen oder über Projektionen gezeigt. Der Besucher der Inszenierung wird zum Zuschauer bisher verborgener Vorgänge, von den Aktionsräumen abgetrennt lediglich durch Warnmarkierungsbänder. Ein rot-weißes Flatterband wird zur Trennschnur zwischen privater und öffentlicher Situation, in der keiner mehr weiß, auf welcher Seite er eigentlich steht.

Maik und Dirk Löbbert: Liegende geboren 1958/ 1960 in Gelsenkirchen http://www.mdloebbert.de Liegen im urbanen Raum Zusätzlich zu dem Bar-Environment der von ihnen geleiteten Klasse der Kunstakademie Münster schaffen Maik und Dirk Löbbert eine weitere Brücke zwischen den Welten – hier das Flair einer Kurstadt mit Weltanspruch, dort der von der Jugendkulturszene geprägte Schlachthof. Der Ort, dessen Spezifik immer entscheidender Faktor der künstlerischen Arbeit des Duos ist, bildet auch hier die wichtigste Grundlage ihres für den Wiesbadener Kunstsommer entwickelten, variablen und vielteiligen skulpturalen Ensembles „Liegende“. Ausgehend von dem zum zweiten „Kurhaus“ erklärten Tunnel implantieren sie Liegestühle in den urbanen Raum. Strahlenförmig ausgreifend und gespeist von der künstlerischen Energie der Arbeit ihrer Klasse, bilden sie eine wie mit Brotkrumen ausgelegte Spur hin zu diesem ungewöhnlich interpretierten Herzstück städtischen Lebens. „Die Liegende“ dient dem kunstgemäßen Betrachten ebenso wie dem kurativen Benutzen. Auch in diesem Projekt zeigt sich die für die Arbeit der Löbberts charakteristische Symbiose aus konzeptuellem auf den Ort abgestimmten Minimalismus und hintergründig spielfreudigem Humor.

Susanne Lorenz: Tagbouquett geboren 1969 in Hannover http://www.komat.de/susanne-lorenz Bissiges Graffiti in blühender Schönheit Auf über 300 m2 Fläche, vis-a-vis zum alten Wasserturm, soll es in voller Farbenpracht prangen, das Graffiti der Sprayergruppe „crue“, das diese einst auf eine Wand des Wasserturmes setzte. Das in weitenTeilen brach liegende Areal um den Wasserturm war noch vor wenigen Jahren ein Eldorado der internationalen Sprayerszene, eine ständig sich erneuernde Freiluftgalerie an den Mauern der alten Industrieanlage. Nun ist ein Großteil der von der Stadt wenig geliebten mit Graffitis überzogenen Gebäude der Abrissbirne zum Opfer gefallen. Die Restmauern des Wasserturms dienen aber noch heute als Skizzenbuch für Sprayer. Während es typisch ist, dass diese Tags nur für einen bestimmten kurzen Zeitraum bestehen bleiben, bevor sie wieder übermalt werden, will die Berliner Künstlerin eines dieser Graffitis, das sich zufällig während ihres Besuches in Wiesbaden an der Wand des Wasserturms befand und längst mehrfach übermalt ist, nun wieder aufleben lassen: nicht gemalt, sondern als großflächiges Blumenbeet direkt gegenüber dem Wasserturm. Eine provokante Vorwegnahme der möglichen Gestalt des künftigen Kulturparks auf diesem Gelände in bestem Kurpark-Stil? Gärtnerische Zähmung eines eigentlich anarchischen Ausdrucksmediums und zynische Nobilitierung so genannter Subkultur? Susanne Lorenz setzt sich mit ihrem Entwurf für diese außergewöhnliche Blumenrabatte bewusst zwischen alle Stühle: eine bissige Schmiererei in blühender Schönheit.

Stefan Mauck geboren 1973 in Stade http://tzrgalerie.de/kuenstler/alphabetisch/mauck/index.html Öffentlich geschützt Die Arbeit von Stefan Mauck beruht auf der Annahme, dass das Begreifen einer Form im Raum ein Zusammenspiel aus Beobachtung, Bewegung, Wissen und Erinnern ist. Der scheinbar sachliche Verwaltungstext, den Mauck auf die Wände des Gebäudes schreibt, erschließt dem Leser die skurrile Geschichte, die hinter der Fassade dieses Bauwerks lauert. In seinem Wiesbadener Projekt weist Stefan Mauck mit trockenem Humor darauf hin, welch eigenartige Formen der Wunsch nach einem gepflegten Stadtbild annehmen kann: Auf der Wand des frisch gestrichenen kleinen Funktionshäuschens für die Wasserversorgung der Stadt Wiesbaden direkt neben dem Bahnhof lesen wir in säuberlichen, der architektonischen Form des Gebäudes angepassten Buchstaben: „Die Stadtverwaltung ließ hierauf einen 250 cm hohen Metallzaun um das Gebäude ziehen, der die hellgelb gestrichene Fassade zukünftig vor weiteren Zugriffen schützten soll. (...)“. Das den Kommentaren der Öffentlichkeit entzogene Gebäude wird durch den künstlerischen Eingriff trotz der Verwaltungsmaßnahme zum Austragungsort von temporärer Öffentlichkeit, diesmal seitens der Kunst.

N 55: Mobile and stationary Units gegründet 1994 in Kopenhagen, besteht aus Ion Sorvin (geboren 1964 in Kopenhagen) und Ingvil H. Aarbakke (geboren 1970 in Norwegen, verstorben November 2005) www.n55.dk/Index.html Multifunktionale Einheiten für „mehr“ Öffentlichkeit Die dänische Künstlergruppe N55 schafft Objekte zwischen künstlerischem Frohsinn, avantgardistisch augenzwinkerndem Design und ambitioniertem Sozialengagement. Ihre mobilen Einheiten, so genannte „Small Trucks“, sind variable, leichtgewichtige und pedalbetriebene Vehikel, mit denen bis zu 300 kg Gewicht bei geringer Geschwindigkeit transportiert werden kann. Die stationären Einheiten sollen als Anziehungs- und Kommunikationspunkt für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen im öffentlichen Raum wirken. Die skurrilen, aber umweltfreundlichen und für ihre Nutzer durchaus gesundheitsfördernden Kleinsttransporter sind vielseitig verwendbar: als mit Lautsprecher ausgestattete DJ-Station, als Küchenmobil oder Mini-Restaurant. Als solche können sie für öffentliche Anlässe ausgeliehen werden. Die stationären Einheiten in der Funktion eines Grill- Systems oder einer kostenlos nutzbaren Energiestation in Gestalt einer kleinen Windmühle dienen der Aktivierung gesellschaftlicher Begegnungen auf dem Schlachthofareal. Die mobilen Units werden für die Dauer der Ausstellung als skulpturale Utopie-Träger im Wiesbadener Stadtraum im Einsatz sein: Als multifunktionale Einheiten für „mehr“ Öffentlichkeit.

Julia Scher: Glückshaube geboren 1954 in Hollywood, USA Videoüberwachung postnataler Glücksversprechen Die New Yorker Künstlerin Julia Scher beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit dem Thema Videoüberwachung. In ihren multimedialen Videoinstallationen arbeitet sie die kritischen Nebenwirkungen einer zunehmend auf Sicherheitstechnik zurückgreifenden Gesellschaft heraus. Für Wiesbaden hat die MIT-Professorin Sicherheitskappen aus rosafarbenem Marmor herstellen lassen, die vom Weltall aus überwacht und via Internet auf das Ausstellungsgelände übertragen werden. Julia Scher nennt diese Helme „Glückhauben“ (engl. “caul”, lat. “caput galeatum”). Dem Volksglauben nach soll diese feine Schutzhaut, die bei einigen Babys kurz nach der Geburt noch die Kopfhaut überzieht, Glück bringen. Diese „Glückshauben“ werden neben Bänken auf dem Gelände zwischen Bahnhof und Schlachthof fixiert. Julia Scher verbindet existenzielle Themen des Menschseins mit den technisch überfrachteten Kontrollmechanismen. Die kostbaren “Glückshauben” werden aus dem All von Satelliten, aus einem Überwachungsflugzeug sowie vor Ort installierten Kameras überwacht. Eine existenziellere Kontrolle des Privaten ist kaum denkbar: Wo bitte geht’s zum Privaten?

Ross Sinclair: Willkommen in Real Life Wiesbaden geboren 1966 in Glasgow http://www.theagencygallery.co.uk/ Lounge für den Bahnhof. Welche Farbe hat das Öffentliche? Grundlage des Vorschlages des bei Glasgow lebenden Künstlers Ross Sinclair ist ein so einfach erscheinendes wie abgründiges Label: „Real Life“. Was bedeutet das: Reales Leben? Bedarf es überhaupt eines Hinweises auf diese eigentlich fundamentale Selbstverständlichkeit? Der Aufruf zum wahren, wirklichen Leben in einer Zeit der Simulationen und Surrogate wirkt anachronistisch und deshalb so aufrüttelnd. Sinclairs Vorschlag für Wiesbaden ist eine offene Lounge inmitten der Eingangshalle des Bahnhofs. An deren Außenseite heißen große Neonlettern die Besucher willkommen: „Welcome to Real Life Wiesbaden!“. Die äußere Form dieser Lounge übernimmt Ross Sinclair von den mit Graffitis überzogenen Restmauern eine historischen Schlachthofhalle (in direkter Nachbarschaft zum Bahnhof). Im Innenraum sind sie mit farbigen Quadraten ausgekleidet. Jedes dieser Quadrate enthält einen farblich jeweils auf die Tafel abgestimmten Schriftzug: „Red Real Life“, „Blue Real Life“, „Brown Real Life“, „Black Real Life“. Sinclair schafft damit einen Empfangsraum für jedermann und wirbt für das „Reale Leben“ in seiner ganzen Vielfalt, ohne Einschränkung oder Ausgrenzung. In der festen Überzeugung von der magischen Wirkung der Kunst entwirft er einen Raum freier bunter Öffentlichkeit. Seine Arbeit wird zur Einladung zum Nachdenken über das, was „Real Life“ heute sein könnte und sein müsste.

Simon Starling geboren 1967 in UK http://www.tate.org.uk/britain/turnerprize/2005/simonstarling.htm Im Kreislauf von Kultur und Natur Der mit dem Turner-Preis 2005 ausgezeichnete britische Künstler Simon Starling spürt in seiner installativen Arbeit geheimen Kreisläufen in Kultur und Gesellschaft nach. Dabei werden rudimentäre Handlungen (z.B. Feuerholz sammeln) und technische Produkte (z. B. Fahrräder/Autos) in inhaltliche Verbindungen gebracht. Für Wiesbaden plant Starling einen besonderen Kreislauf in Gang zu setzen, der auf kontextuelle Bedeutungsverwandlungen verweist. Nach seinem Entwurf soll ein Baum aus dem großzügigen Park der Reisinger-Anlage gegenüber vom Bahnhof vorsichtig und unbeschadet ausgegraben und für die Dauer der Ausstellung auf dem Gelände hinter dem Schlachthof in die Erde eingelassen werden. Der Baum würde dort, an einem ihm fremden Ort, von sonderbarer sensibler Präsenz sein. Das Pflanzloch in der Parkanlage soll während der Ausstellung gekennzeichnet werden und auf die „Wanderung“ verweisen. Am Ende der Ausstellung soll der Baum an seinen Herkunftsort zurückgeführt werden. Mit dieser Wanderung zwischen den „Kulturkreisen“ will Simon Starling auf die beiden unterschiedlichen, geradezu konträren Stadträume aufmerksam machen, die in ihrer Geschichte unterschiedliche gesellschaftliche Deutungsformen für die Kreisläufe in Natur und Kultur ausgebildet haben.

Markus Vater: Museum für materialintensive Eroberungsversuche geistiger Reiche geboren 1970 in Düsseldorf Schutzlos öffentlich Der Rauheit des öffentlichen Raumes will der in London lebende Maler, Zeichner, Performancekünstler eine „fragile, menschliche und poetische Arbeit“ entgegensetzen. Da diese nicht schutzlos sein kann, wird er eine Glasvitrine auf dem Gelände installieren: einen Innenraum im Außenraum, ein Ort der Intimität, einsam, etwas fehl am Platz. Darin leuchtet nachts eine Assemblage aus Fotografien, Zeichnungen und Malereien mit einem an diesem Ort merkwürdig, geradezu anachronistisch anmutendem Thema, nämlich dem Porträt einer menschlichen Seele. Er zeigt sie uns in einer für ihn charakteristischen Mischung aus malerischer Verve, bissig pointierter Zeichnung und mit dem Eingeständnis einer ambivalenten Sehnsucht nach romantischer Transzendenz. Markus Vater verwandelt damit eine präsentable Werbefläche zum „Museum für materialintensive Eroberungsversuche geistiger Reiche“. Damit schafft er einen utopischen Ort des Innehaltens fern gesellschaftlicher Realität. Diesen kostbaren Wert in seiner Verletzlichkeit der Öffentlichkeit auszusetzen, ist Teil seines künstlerischen Wagnisses.

Florian Wüst: Lob der Freiheit geboren 1970 in München www.thing.net/~florian Streifzüge durch das Wiesbadener Stadtarchiv Die Auseinandersetzung mit den Werten der westlich-demokratischen Welt bildet das Zentrum der Arbeit des Medienkünstlers Florian Wüst. Die filmischen und installativen Projekte haben brisante Momente aus Politik und Gesellschaft der letzten 50 Jahre in Deutschland zum Ausgangspunkt. Aus ihrem historischen Kontext herausgelöst, konfrontiert Wüst Themen der Vergangenheit mit der Gegenwart und stellt sie erneut zur Diskussion. „Lob der Freiheit“ nennt er sein Vorhaben für den Wiesbadener Kunstsommer, eine sechsteilige Serie großformatiger Plakate, für die Florian Wüst im Wiesbadener Stadtarchiv recherchiertes Material zu Stadtentwicklung, Friedensinitiativen und den Erbenheimer Protesten der 80er Jahre in grafisch zurückhaltende Linienzeichnungen lebensgroßer Figuren übersetzt. Wie harmlose Werbeplakate sind sie während des Kunstsommers an den Bushaltestellen rund um den Bahnhof zu sehen, unterlegt mit einem Hörstück, das aus Lautsprechern ertönt. Der Künstler ruft zu vielschichtiger Auseinandersetzung mit Historie und Gegenwart auf, die unter Einbeziehung konkreter Ereignisse, die Wiesbadener Öffentlichkeit entschieden mitbestimmt haben. Parallel zu seiner künstlerischen Arbeit stellt Florian Wüst in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Filminstitut für die Film-Bühne Caligari ein historisches Filmprogramm zusammen, das sich den Fragen der demokratischen Öffentlichkeit und Stadterneuerung mit cineastischen Mitteln nähert.

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Wiesbadener Kunstsommer 2006
Wo bitte geht’s zum Öffentlichen? / Show me the way to public sphere!

Künstler:
Thorsten Goldberg, Takafumi Hara, Rudolf Herz, Anja Jensen, Peter Johansson / Barbro Westling, Susanne Kutter, Jürgen Lemke, Maik & Dirk Löbbert, Susanne Lorenz, Stefan Mauck, N55 , Julia Scher, Ross Sinclair, Simon Starling, Markus Vater, Florian Wüst ...

Kuratoren:
Martin Henatsch

Orte:
Wiesbaden zwischen Schlachthof und Bahnhof