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Ab 29. Oktober 2010 widmet die Albertina dem zeitgenössischen südafrikanischen Künstler William Kentridge eine umfassende Ausstellung. Die gemeinsam mit dem SFMOMA und dem Norton Museum of Art in West Palm Beach, Florida, veranstaltete Schau William Kentridge: Fünf Themen präsentiert mehr als sechzig Arbeiten des Künstlers, in denen unterschiedlichste Medien wie Zeichnung, Skulptur, Grafik, Film und Theater eine einzigartige Verbindung eingehen. Die Themen des 1955 in Johannesburg geborenen Künstlers sind eng mit seinem Leben verknüpft und kreisen zugleich um politische Fragestellungen: Über das Private spiegeln sich die Bedingungen des Umfelds – Johannesburg, der südafrikanische Staat, Afrika und die Folgen des Kolonialismus generell – wider.

In seinem eindringlichen Œuvre befasst sich Kentridge thematisch mit Unterdrückung und gesellschaftlichen Konflikten, mit Fragen von Verlust und Versöhnung sowie dem flüchtigen Charakter des persönlichen und kulturellen Gedächtnisses. Die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler konzipierte Ausstellung gliedert sich in fünf zentrale Themenkomplexe, die Kentridge die letzten drei Jahrzehnte hindurch beschäftigt haben. Obgleich ein Schwerpunkt der Präsentation auf seit dem Jahr 2000 fertiggestellten Projekten liegt, werden neben früheren Werken aus den 1980er- und 1990er-Jahren auch Arbeiten aus der jüngsten Produktion des Künstlers gezeigt, was wie noch nie zuvor den großen Bogen seines bemerkenswerten Werdegangs sichtbar werden lässt. Mehrheitlich zeigt die Ausstellung Filme oder vielteilige Filminstallationen, die auf dem Medium Zeichnung beruhen, welches durch eine geradezu altertümliche Stop-Motion-Technik in Bewegung gebracht wird. In Grafiken und Skulpturen spinnt Kentridge seine Themen weiter fort. In den letzten Jahren widmete er sich vermehrt auch der Interpretation von Musik. Für große Opernproduktionen von Mozarts Zauberflöte und Schostakowitschs Die Nase nach einer Erzählung Gogols hat er beeindruckende Installationen geschaffen. Jedes größere Werk in Kentridges Œuvre stellt eine Synthese und eine Summe vorangegangener Werke dar. Kentridges Kunst kommt zweifelsohne von der Zeichnung her. Wie kein anderer zeitgenössischer Künstler versteht er es, spielend zwischen althergebrachtem Einsatz des Zeichenstifts und experimentellen Anwendungen, beispielsweise in seinen Animationsfilmen, zu wechseln. Die Werke haben ein starkes reflexives Moment und einen bewusst-offensiven Bezug auf die große Tradition der Zeichenkunst, was eine Ausstellung des Künstlers im Kontext der Albertina, einem Haus, das 500 Jahre Zeichnungsgeschichte unter seinem Dach versammelt, besonders faszinierend macht. Sei es in seinen kunst- und gesellschaftsanalytischen Arbeiten oder auch in seinen Untersuchungen zu den Bedingungen menschlichen Wahrnehmens, wie dem stereoskopischen Sehen oder dem Phänomen der Anamorphose - Kentridges zwischen Wissenschaft und Politik changierende künstlerische Position weist uns, vor allem durch die Integration von Gestik, Methode und Tradition, einen Weg weit ins 21. Jahrhundert hinein und bekundet erneut die virulente Aktualität der Zeichnung.

William Kentridge: Fünf Themen wurde vom San Francisco Museum of Modern Art und vom Norton Museum of Art realisiert. Die Ausstellung wird von der Koret Foundation großzügig gefördert und erfährt zusätzliche Unterstützung durch das National Endowment for the Arts.

Parcours d’Atelier: Der Künstler im Atelier

Der erste Teil der Ausstellung widmet sich einem entscheidenden Wendepunkt im Schaffen von Kentridge, der die eigene künstlerische Praxis zum Thema hat werden lassen. Der unsichtbare Prozess, welcher der Produktion eines Kunstwerks vorausgeht, ist Gegenstand der siebenteiligen Filminstallation 7 Fragmente für Georges Méliès (2003), einer Hommage an den Regisseur des frühen französischen Films und für seine Filmtricks bekannten Magier. Die sieben Filme zeigen

Kentridge bei der Arbeit im Atelier oder in Interaktion mit seinen Schöpfungen. Kentridge zollt Méliès’ Stummfilmen wie Le voyage dans la lune (Die Reise zum Mond) von 1902 Tribut, indem er wie sein Vorgänger vor selbst gezeichneten Szenenbildern auftritt und diese beschwört. Thematisch gerahmt – und deshalb stets gemeinsam vorgeführt – wird die Installation 7 Fragmente von den Filmen Day-for-Night und Reise zum Mond. Desweiteren ergänzen mit der Filminstallation in Zusammenhang stehende Zeichnungen den Themenkomplex. William Kentridge benützt in dieser Werkgruppe das klassische Thema „Selbstporträt“, um den schöpferischen Prozessen, die im Atelier ablaufen, auf die Spur zu kommen. Er setzt sich selbst als Sujet – und entwickelt damit Mittel und Wege, sich und seine kreative Arbeit zu porträtieren, zu dramatisieren und zu begreifen. In der für den Künstler prototypischen Produktionsstätte, dem Atelier, erkennt er einen „Raum für viele unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten eines Bildes, in dem sich Sequenzen ergeben können, die als innere Projektionen auf den Prüfstand kommen“.

Vom Absurden lernen: Die Nase

Das jüngste Werk von William Kentridge steht mit der Regiearbeit des Künstlers für die Oper Die Nase von Dmitri Schostakowitsch in Zusammenhang, die im März 2010 an der Metropolitan Opera in New York Premiere hatte. Die erstmals 1930 aufgeführte Oper beruht auf einer absurden Erzählung Nikolai Gogols aus dem Jahr 1836. Kentridge fasst den Inhalt wie folgt zusammen: „Ein Mann wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass seine Nase fort ist. Er versucht, sie in den Straßen seiner Stadt aufzuspüren, geht zur Polizei, gibt eine Zeitungsannonce auf und sucht medizinischen Rat. Als er seiner Nase schließlich (in einer Kathedrale) begegnet, stellt er zu seinem Erschrecken fest, dass sie inzwischen einen höheren Rang bekleidet als er selbst. Seine eigene Nase spricht nicht mehr mit ihm. Selbst nachdem seine Nase verhaftet worden ist (als sie versuchte, maskiert die Stadt zu verlassen), ist sie immer noch nicht willens, in sein Gesicht zurückzukehren. Doch eines Morgens erwacht er, und die Nase ist wieder an ihrem Platz.“

Ich bin es nicht, das ist nicht mein Pferd (2008) ist eine aus acht Filmfragmenten bestehende Installation, die – wie Kentridge erklärt – Gogols Kurzgeschichte, ihre literarischen Vorfahren und ihre möglichen zukünftigen Geschichten als Grundlage nimmt, um den Blick auf den formalen Erfindungsreichtum verschiedener Tendenzen der russischen Moderne, aber auch auf das katastrophale Ende der russischen Avantgarde in den 1930er-Jahren zu richten. Der Titel der Arbeit ist eine traditionelle russische Redewendung, mit der man seine Schuld bestreitet. Der Künstler greift das kühne grafische Gefühl des russischen Konstruktivismus auf und verbindet Stop-Motion- Animationen von aus Papier ausgeschnittenen Figuren mit gelegentlich eingesetztem Archivmaterial und Realfilm, wodurch eine ganz eigene kraftvolle Bildsprache entsteht.

Sarastro und die Stimme des Herrn: Die Zauberflöte

Ein Höhepunkt der Ausstellung sind Kentridges Arbeiten, die sich aus der Produktion der Mozart- Oper Die Zauberflöte entwickelt haben, mit der der Künstler 2005 im Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie befasst war. Im Zentrum des Ausstellungsraums zeigen drei skulpturale Objekte – zwei Miniaturtheater und eine Filminstallation – abwechselnd Projektionen, die einen erweiterten theatralischen Zyklus entstehen lassen. Die Flöte erlernen (2003) dient als Ouvertüre oder Einleitungsakt. Der auf eine Tafel projizierte Film wird zu einem Skizzenbuch der gesamten Produktion. Die Flöte vorbereiten (2005), eine ursprünglich als großes Modell entstandene Arbeit, diente Kentridge dazu, die für seine Opernproduktion zentralen Projektionen zu erproben. Diese Projektionen arbeiten mit einer Gegenüberstellung von Positiv- und Negativfilm und betonen den von Mozart entworfenen symbolischen Konflikt zwischen der Königin der Nacht und Sarastro, dem Hohepriester des Lichts. So wird auf die Zwiespältigkeiten der Aufklärung verwiesen, die die Emanzipation des Menschen zum Ziel hatte, aber ebenso Unterdrückung und Unterwerfung mit sich brachte. Das zweite Miniaturtheater, Black Box/Chambre Noire (2005), enthüllt die dunklere Seite einer der politischen Folgen der Aufklärung. Es beschäftigt sich mit den „Beschädigungen durch den Kolonialismus, der seine Raubzüge für sich selbst so darstellte, als bringe er dem dunklen Kontinent die Aufklärung“ (Kentridge). Thema ist der Aufstand der Herero in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, von 1904 bis 1907 und der nachfolgende Genozid an diesem Volk. Die als Schlusspunkt zur Zauberflöte dienende Installation Was kommen wird (ist schon gewesen) (2007) befasst sich mit der Besetzung Abessiniens (Äthiopiens) durch das faschistische Italien Mussolinis im Jahr 1935. Auf eine reflektierende Oberfläche projizierte verzerrte Bilder setzen sich in einem zylindrischen Spiegel wieder zusammen und verweisen auf den zyklischen Charakter der Geschichte und deren Verzerrungspotenzial.

Gelegentliche und verbleibende Hoffnung: Ubu und die Prozession

1975 wirkte Kentridge als Schauspieler in König Ubu, einer Bearbeitung von Ubu Roi, Alfred Jarrys Satire auf einen korrupten und feigen Despoten, mit. „Aus südafrikanischer Sicht ist Ubu eine besonders starke Metapher für den Irrsinn der Apartheidpolitik, die vom Staat als vernünftiges System hingestellt wird.“ (Carolyn Christov-Bakargiev) Zwanzig Jahre später griff Kentridge dieses Material wieder auf und stellte es in einen neuen Zusammenhang, nämlich den der öffentlichen Anhörungen vor der „Truth and Reconciliation Commission“ (Wahrheits- und Versöhnungskommission), die Mitte der 1990er-Jahre Verstöße gegen die Menschenrechte in den Jahren der Apartheid untersuchte. Auf die Theaterproduktion Ubu und die Wahrheitskommission im Jahr 1996 folgte ein Animationsfilm mit dem Titel Ubu sagt die Wahrheit (1997). Alfred Jarrys derbe und absurde literarische Figur Ubu hat Kentridge auch in einer gleichnamigen Serie von Radierungen thematisiert, indem er seine eigene Gestalt jeweils mit einem neuen Umriss versah. Dieses Motiv wird im Film Schattenprozession (1999) fortgeführt, diesmal an Hand von animierten Puppen, marschierenden schwarzen Figuren. In großformatigen Zeichnungen, vielteiligen Collagen auf Buchseiten und in Bronzefiguren findet die Verknüpfung der Themenkomplexe „Ubu“ und „Prozession“ ihre Fortsetzung. Die theatrale Aufführung der Prozession verweist auf die politische und kulturelle Unbeständigkeit in jenem Augenblick der Geschichte Südafrikas und spielt gleichzeitig auf universelle Umstände von Protest und Migration an.

Verdichtete Zeit: Soho und Felix

Der letzte Abschnitt der Ausstellung ist den bekanntesten fiktionalen Figuren des Künstlers gewidmet, die Kentridge in seinem 1989 begonnen Filmzyklus Johannesburg, zweitgrößte Stadt nach Paris einführt : Soho Eckstein, ein despotischer Industrieller und Bauunternehmer, dessen schlechtes Gewissen bestimmte Haltungen im heutigen Südafrika widerspiegelt, und sein empfindsames Alter Ego, Felix Teitlebaum. Felix fungiert zwar oft als Stellvertreter des Künstlers, aber, so meint Kentridge im Hinblick auf seine Figuren: „In jedem von ihnen steckt ein Teil von mir … oder beide in mir.“ Insgesamt neun kurze Animationsfilme begleiten Soho und Felix dabei, wie sie sich im letzten Jahrzehnt des südafrikanischen Apartheid-Regimes im politischen und sozialen Klima Johannesburgs durchzukämpfen suchen. Mit diesen Filmen, die Kentridge als Chronisten der Gräuel der Apartheid international bekannt machten, hat der Künstler seine improvisatorische Arbeitsweise und seine zum Markenzeichen gewordene Stop-Motion-Animationstechnik entwickelt. Die Filme – sie fußen alle auf dem Medium Zeichnung – gewähren unmittelbar Einblick in den kreativen Schaffensvorgang. Die Erzählung existiert nicht im Kopf des Künstlers, sondern entsteht buchstäblich erst während des Zeichenprozesses und kann sich mit jedem neuen Blatt, mit jeder neuen Variante in eine andere Richtung weiterentwickeln. Vor unseren Augen entsteht unter des Künstlers flinker Hand eine Zeichnung, die das näher rückende Auge der Kamera dann als Standbild festhält. Daraufhin wird die Zeichnung mit wenigen Strichen weitergeführt – zugleich aber in Teilen ausgelöscht, Kohlestift und Radiergummi stehen hier als quasi gleichberechtigte Werkzeuge zur Verfügung. Kentridge entwickelt ein Verfahren, das direkt aus dem ersten Bild immer neue Lösungen herausbildet. Ausgestellt wird auch eine Auswahl von Schlüsselzeichnungen zu diesem Themenkomplex.