press release only in german

“My art occupies a fluctuating netherspace between documentary and fantasy. While my own history inevitably informs my work, my interest is in imagining and telling new stories that comment on our common cultural inheritance.” (Ydessa Hendeles)

Death to Pigs ist die erste umfassende Retrospektive der kanadischen Künstlerin Ydessa Hendeles in Europa. Ihre Kompositionen, die sich durch das Zusammenstellen von Erlebtem und Interpretiertem auszeichnen, entfalten eigenständige Narrationen und vermitteln eine Reflexion über Zugehörigkeit, Andersheit und Ausgrenzung. Ihr Werk erzählt eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, die über gewohnte Erzählungen hinausgeht und darauf verweist, wie Identitäten konstruiert werden.

Hendeles’ Werk ist eng verbunden mit ihrer eigenen Biografie als Tochter von Holocaust-Überlebenden, die in den frühen 1950er Jahren nach Kanada emigrierten. Die Themen ihrer Kunst sind ebenso universell wie spezifisch – sie verhandeln Verlust und Entfremdung und laden die Betrachter/innen ein, Verbindungen zu sich selbst zu finden oder herzustellen.

In ihrer künstlerischen Praxis reflektiert Hendeles ihr Leben und ihre vielfältigen Erfahrungen, spricht zugleich aber auch allgemeine Modi universellen Erlebens an. Sie untersucht Mechanismen sozialer Inklusion und Exklusion und wie diese zu Vorstellungen von „Fremdheit“ in Verbindung stehen. Der Philosoph Zygmunt Bauman hat den Prozess der Modernisierung als Vorgang beschrieben, der nicht nur zu Rationalisierung und individueller Freiheit geführt hat, sondern auch zu Kontrolle und sozialer Ausgrenzung. Nach Bauman fand mit Beginn der Industrialisierung eine Neuordnung der Welt statt, in die nicht alle sozialen Gruppen integriert wurden. Vermeintliche „Andersartigkeit“ wurde dabei zum Motiv für unbestimmte Angst.

In Zeiten, in denen wir mit regressiven Tendenzen in Politik und Gesellschaft konfrontiert sind, werden Vorstellungen von „Fremdheit“ und „Andersartigkeit“ erneut produziert und diskutiert. Populistische und konservative Parteien sowie identitäre Bewegungen verbreiten Ideen von vorgeblicher kultureller Identität mit dem Ziel vermeintlicher Vereinfachung komplexer Zusammenhänge. Hendeles’ Arbeiten erinnern uns an die Dialektik sozialer Entwicklungen und regen an, aus der Geschichte zu lernen. In ihren Werken schaut sie in die Vergangenheit und kommentiert damit unsere Zukunft, die nur in ihrer globalen Vernetzung verstanden werden kann.

Sammeln, Erinnern, Akkumulieren von Wissen und Objekten, Wunderkammer und Spurensuche sind Themen, die Hendeles’ Werk prägen. Die Künstlerin arbeitet oft mit gefundenen, häufig historischen Objekten und Artefakten, die sie in einen Ausstellungskontext bringt und in umfangreichen Installationen zueinander in Beziehung setzt. Über die „Ausstellung als Medium“ hinterfragt Hendeles nicht nur, was es bedeutet, Künstler/in, Kurator/in oder Sammler/in zu sein, sondern stellt auch ihre Beziehungen im Kunstsystem auf den Prüfstand.

Die Ausstellung Death to Pigs erstreckt sich über beide Hallen der Kunsthalle Wien Museumsquartier und verbindet mehrere zentrale Werkkomplexe der Künstlerin aus den vergangenen Jahren zu einer vielschichtigen Narration. Als titelgebende Installation wird in der oberen Ausstellungshalle die Arbeit Death to Pigs (2015–2016) präsentiert, die die Metapher des Schweins aufgreift und zeigt, wie sich Begriffe und Vorstellungen über das Tier kulturgeschichtlich entwickelten und veränderten, von Märchengeschichten und religiösen Zusammenhängen bis hin zu den Morden der Manson-Familie im Sommer 1969 und massenmedialen Darstellungen.

Die Erzählung der Ausstellung beginnt mit der Arbeit Veronica’s Veil / Tigers’ Tale (2016–2018), die für die Kunsthalle Wien wiederbelebt, ergänzt und umbenannt wurde und sich als Gegenüberstellung zweier Geschichten präsentiert, die das Wundersame und Magische für Erwachsene und Kinder hervorbringen. From her wooden sleep… (2013), die zentrale Arbeit in der unteren Ausstellungshalle, besteht aus einem raumgreifenden Arrangement von mehr als 150 lebensgroßen historischen Holzgliederpuppen. In ihrer Anordnung beschwören sie eine scheinbar geschlossene Gemeinschaft herauf, die die Betrachter/innen in die unangenehme Rolle der Beobachtenden oder sogar Außenseiter/innen versetzt. Die vorangehenden Installationen Blue Beard (2016) und Crypt (2016) verweisen bereits einleitend auf Themen wie Zugehörigkeit und Ausgrenzung und die dahinter stehenden Weltanschauungen. Wie viele ihrer Werke ist auch Canadian Child (2009) eng mit dem Leben der Künstlerin verbunden und spielt darauf an, wie der Wandel von persönlichen oder nationalen Identitäten auch äußerlich in Erscheinung tritt.

In der oberen Ausstellungshalle sind neben Death to Pigs die Installationen The Dead Jumbo. (2011), THE BIRD THAT MADE THE BREEZE TO BLOW (2006–2011), Predators & Prey (The Denslow’s Mother Goose Project) (2005–2017) und Marburg! The Early Bird! (2008–2016) zu sehen. Marburg, Hendeles’ Geburtsstadt, in der sich ihre Eltern nach den Schrecken des Holocaust zunächst niederließen, ist eng verknüpft mit dem Wirken der Brüder Grimm, die Märchen und Sagen sammelten und verschriftlichten. Als Motiv spielen Kindermärchen in Hendeles‘ Arbeiten eine zentrale Rolle. Indem sie nachzeichnet, wie sich Ideologien schon in den Fantasiewelten und imaginären Geschichten für Kinder widerspiegeln, weist sie darauf hin, wie tief bestimmte Glaubens- und Wertesysteme verankert sind.

Im Spannungsfeld zwischen schwerwiegender Verantwortung aus der Vergangenheit und hoffnungsvollen Erwartungen an die Zukunft beschäftigt sich die Arbeit THE BIRD THAT MADE THE BREEZE TO BLOW (2006–2011) mit der Nachkriegskultur und den Nachwehen früherer Traumata. Modernismus, technologische Entwicklung und die damit verbundenen Hoffnungen werden hier von der psychischen und emotionalen Last konterkariert, die den Einzelnen in seiner Handlungsfähigkeit einschränkt. Dabei geht es letztlich auch darum, einen Platz in der Welt im Kontext von Geschichte, Generation, Kultur und Nationalität zu finden. Hendeles neu geschaffene ortsspezifische Arbeit The Eagle and the Hare (2017) thematisiert den Adler als mehrdeutiges Symbol des Göttlichen wie des Dämonischen, des Beschützers wie des Angreifers. Die Werke der Ausstellung Death to Pigs präsentieren sich als dichte Überlagerungen präzise recherchierter kulturgeschichtlicher Inhalte und autobiografischer Referenzen. In ihrer Dramaturgie entfalten sie einen subjektiven Blick auf unsere Kulturgeschichte und setzen sie zu gesellschaftlichen Entwicklungen in Beziehung. Dabei entsteht eine vielschichtige Erzählung, die darauf verweist, wie gesellschaftlich konstruktive Kräfte immer wieder destruktiv eingesetzt wurden und utopisches Denken sich in Dystopien verkehrte.

Kurator: Nicolaus Schafhausen Pressetext