14. Sep 2017

Ein Beitrag von Lothar Frangenberg

Die „Torwache“, eine aus zwei Baukörpern bestehende historische Anlage, wurde in Kassel Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut und als geplantes Stadttor nie vollendet. Die beide Gebäude verbindende Toranlage fehlt. Die Bauten flankieren die hier beginnende Wilhelmshöher Allee, die als lange Verkehrs- und Blickachse zum gleichnamigen Schloss hin ansteigt. Die „Torwache“ kennzeichnet den Übergang der geradlinigen, städtebaulich dominanten Allee zur zentralen Innenstadt, der ehemaligen Residenzstadt. Heute beherbergen die Gebäude Museumsräume und werden von einem Gericht, das sich auch um die rechtlichen Belange von Flüchtlingen kümmert, genutzt.

Ibrahim Mahama hat die Bauten unter dem Titel „Checkpoint Sekondi Loco“ mit einem für ihn typischen Material, das er vielerorts international ähnlich zum Einsatz bringt, verhüllt. Er nutzt gebrauchte Jutesäcke, teils löchrig, verschlissen und voller Gebrauchsspuren, in denen üblicherweise weltweit Waren wie Kakao oder Kaffee transportiert werden. Sie wurden mit dicken Nähten zu riesigen Umhängen zusammengefügt. Die „Torwache“ verschwindet komplett unter diesen dunklen, abgerissenen Hüllen, die vor Ort eine enorme, sinnliche Präsenz entfalten. Dabei sind Material und konzeptionelle Überlegungen in der künstlerischen Arbeit zu einer unauflösbaren Synthese gebracht. Kritik an international zirkulierenden Warenströmen mit all ihren ausbeuterischen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten ist seiner Arbeit inhärent und läuft wie selbstverständlich mit.

Auf der documenta ist dieser Eingriff neben dem „Parthenon der Bücher“ eine der auffälligsten, künstlerischen Setzungen im Stadtraum. Der „Checkpoint“ bildet einen verdüsterten Gegenpol zu den aus dem Zwehrenturm am Fridericianum quillenden, weißen Rauchschwaden des Künstlers Daniel Knorr („Expiration Movement“). Beide Arbeiten setzen sich völlig unterschiedlich mit dem architektonischen Umfeld auseinander, führen unterschiedliche Aggregatzustände vor: Hier der von Generatoren auf der Turmspitze erzeugte Rauch als flüchtiges zivilisatorisches Signal, je nach Wetter auf- oder absteigend, und die Architektur nach oben hin auflösend, dort die gewichtige, ortsgebundene Umhüllung mit skulpturaler Wirkung. Sie ist der Schwerkraft unterworfen, die die herunterhängenden, lappigen Jutesäcke weiter nach unten zieht. Den Gebäuden wird eine „Last“ auferlegt.

Trotz aller dargebotenen Sinnlichkeit geht es bei Mahama nicht um eine ästhetische Aufwertung oder um den Reiz des Verborgenen und Unsichtbaren unter der Hülle. Der Ort wird nicht aktiviert, um ihn dem touristischen Erlebnis verfügbarer zu machen. Den Säcken sind Zeichen, Hinweise und Inhalte eingeschrieben. Die Umhüllung ist lesbar. Sie hat in ihrer Verbrauchtheit Geschichte, die nachvollzogen werden kann. Die historischen Gebäude, ihrer Eigenheiten beraubt, werden unter ihr zu „klotzigen“ Markierungen, die Umdeutungen erfahren. Andere Narrative treten nach vorne: die von globalem Handel und ungleichen Besitzverhältnissen und den damit verbundenen Schicksalen Einzelner. Sie sind Belege für die bekannten, alles durchdringenden Formen weltweiten, kapitalistischen Wirtschaftens.

Die maskierten Bauten, mit Transportsäcken „reisefertig“ gemacht, lassen sich mit anderen Orten, die der Künstler mit diesem Material gleichfalls verhüllt hat oder noch bedecken wird, gedanklich verknüpfen und synchronisieren. Es entsteht ein imaginäres Netz von Koordinaten. Mahama legt eine Art fiktiver Karte an, initiiert Verbindungslinien parallel zu den von ihm thematisierten Strömen von Gütern und Waren.

Nichtsdestotrotz tritt dem Blick des Besuchers gleichzeitig etwas Fremdartiges entgegen.

Diese documenta sieht sich starker Kritik ausgesetzt. Die documenta-Macher hätten die Kunst vereinnahmt, indem sie durchgängig und teils vordergründig politische Thesen über die Kunstwerke transportieren und vermitteln. In der Konsequenz verließen sie sich weniger auf die sinnliche Kraft und Innovation der Kunst und ihre nicht rationalisierbaren, bedeutungsoffenen Qualitäten, sondern auf konkrete Botschaften mit bekannten Inhalten. Mahamas Arbeit entspricht dem nur auf den ersten Blick. Seine Botschaft passt in den kritisierten, sehr forcierten thematischen Rahmen der documenta; seine Verpackung aus Jutesäcken erschöpft sich aber nicht darin, die „Einhausung“ solcher Inhalte zu sein. Sie lässt sich nicht nur als politisches Statement und anklagendes Mahnmal kategorisieren. Seine Arbeit initialisiert unsere Erfahrung vor Ort neu. Die Jute ist nur eine sinnliche Schicht, die wir wahrnehmen. Der Vorgang des Verbergens und Tarnens in Kombination mit dem Wechselspiel von Äußerem und verborgenem Inneren stellen den Betrachter permanent vor die Frage, was er sieht oder zu sehen meint.

Link:
documenta 14 Kassel, Infoseite in kunstaspekte