Ein Interview zur Ausstellung „Gerhard Richter, Neue Bilder“ im Museum Ludwig, Köln, mit der Kuratorin Rita Kersting. Die Fragen stellte Lothar Frangenberg.

Das Museum Ludwig widmet Gerhard Richter zu seinem 85. Geburtstag eine Ausstellung und präsentiert 26 abstrakte Bilder in verschiedenen Formaten, die im letzten Jahr entstanden sind. Daneben werden auch andere wichtige Werke früherer Schaffensphasen gezeigt, die bis auf einige Leihgaben aus dem Sammlungsbestand des Museums Ludwig stammen.

Der Maler Gerhard Richter wirft seit über fünfzig Jahren mit seinen Arbeiten in immer neuen Anläufen die Frage nach den heutigen Möglichkeiten und der Aktualität von Malerei auf. Der Zweifel am Gelingen, mit diesem traditionellen Medium noch bedeutungsvolle Umsetzungen künstlerischer Erfahrungen leisten zu können, ist eingeschlossen. In auch konzeptionell unterschiedlichen Werkgruppen, vom Bild hin zum Objekt, vom Porträt und der Landschaft bis zur Abstraktion, lotet er durchaus mit Kalkül auch unter Verwendung aleatorischer Versuchsanordnungen aus, was sich in seinem Sinne mit Malerei noch sinnvoll darstellen und ausdrücken lässt. Er nutzt dabei ebenso Vorlagen und Motive aus seinem Privatleben als auch solche von öffentlichem Interesse. Die abstrakten Elemente konkretisieren sich gleichermaßen „faktisch“ wie das Abbildhafte. Sie verweisen nicht automatisch über sich hinaus. Die Beziehungen zwischen Bild, Abbild und Malerei stehen permanent auf dem Prüfstand.

Lothar Frangenberg: Die Ausstellung ist natürlich als Hommage zu verstehen. Inwieweit lässt sich in der aktuellen Werkgruppe auch Neues entdecken? Ist sie mehr als eine Variation in der Reihe der abstrakten Arbeiten?

Rita Kersting: Seit über 30 Jahren dominieren die Abstrakten Bilder im Werk von Gerhard Richter. Er hat viele hunderte Abstrakte Bilder gemalt. Jedes einzelne Bild ist einzigartig, anders als alle anderen und doch kann man ein Bild von Gerhard Richter als ein von ihm gemaltes erkennen. Einige der neuen Abstrakten Bilder ähneln in ihrer intensiven Farbigkeit Gemälden, die um die Mitte der 1980er Jahre entstanden sind. Aber die neuen Bilder weisen eine größere Kleinteiligkeit auf, die Mittel und Werkzeuge hinterlassen eine deutlichere Spur und ein viel differenzierteres, fast unruhiges Neben-, Hinter- und Miteinander unterschiedlicher Elemente und Einheiten.

Lothar Frangenberg: Wie wichtig ist das Zeigen des Sammlungsbestandes seiner Arbeiten im Kontext der neuen Malereien? Welche Einsichten gelingen mit dieser Zusammenstellung in Bezug auf das Vorgehen des Malers?

Rita Kersting: Das Museum Ludwig besitzt repräsentative Arbeiten aus unterschiedlichen Schaffensphasen von Gerhard Richter aus den vergangenen 50 Jahren, die die neuen Abstrakten Bilder kontextualisieren. Es handelt sich um Fotobilder, darunter Ikonen wie „Ema“ von 1966 oder „48 Portraits“ von 1972, aber auch ein frühes großformatiges Abstraktes Bild, das im Vergleich zu den neuen Abstrakten Bildern eine ganz andere Herangehensweise zeigt. Auch die vielen Editionen in unserer Sammlung sind interessant; sie zeigen, in welchen auch thematisch bedeutungsvollen Feldern sich Gerhard Richter mit der Frage von Bild und Abbild, Gegenständlichkeit, Schärfe, Verunklärung, Verwischung und Nicht-Gegenständlichkeit beschäftigt.

Lothar Frangenberg: Richter bereitet bekanntermaßen die Hängung im Modell gründlich vor. Hat er Werke und Werkgruppen für Sie auch überraschend miteinander kombiniert?

Rita Kersting: Die Sammlungspräsentation und die neuen Bilder sind voneinander getrennt, aber durch die Installation des Abstrakten Bildes „Krieg“ von 1981 aus unserer Sammlung, das Richter in die Sichtachse gehängt hat, verschränken sich die beiden Bereiche. Innerhalb der Sammlung gibt es eine interessante Reihe von Editionen, in denen Motive aus der deutschen Geschichte und Gegenwart eine Rolle spielen, überraschend ist auch der kleine Raum mit sechs fotografischen Selbstportraits, einem Spiegel und einem Kreuz, der eine Art Präludium zu dem Raum mit den einzeln gehängten 48 Portraits bildet.

Lothar Frangenberg: Gibt es für Sie herausragende Werkgruppen? Kann man die Frage bei der augenscheinlichen Diversität des Gesamtwerkes überhaupt stellen?

Rita Kersting: Im Grunde gibt es zwei Werkgruppen, die Fotobilder und die Abstrakten Bilder; aber es gibt weitere Differenzierungen, die Glasarbeiten, die Editionen, Zeichnungen und skulpturale Arbeiten. Die Offenheit, mit der Richter, der sich ja als Maler sieht, die Frage der Malerei auch methodisch angeht, ist m.E. wichtiger als das Herausstellen einer einzelnen Werkgruppe.

Lothar Frangenberg: In Richters viel besprochener „Birkenau“-Serie von 2014, Werkverzeichnis 937/1-4 (Anm.: nicht in der Ausstellung präsent), sind, verborgen unter abstrakteren Farbschichten, die von ihm gemalten Reproduktionen von Fotos eingelagert, die Häftlinge in diesem Konzentrationslager aufgenommen haben. Die Angemessenheit seines malerischen Zugriffs auf dieses Thema wurde kontrovers diskutiert. Die künstlerische Entscheidung Richters, das malerische Abbilden der dokumentierten, grauenhaften Zustände wieder zurückzunehmen, indem er diese Schichten mit gegenstandslosen Schlieren überzieht, gewinnt durch die Bedeutung des Themas etwas Exemplarisches. Die Bilder scheinen sich aufzuladen, werden erhabener, spektakulärer.

Werden damit abstrakte Werkgruppen, wie die hier im Museum gezeigte, anders gelesen, gar missverstanden, indem man über das intendierte, malerische Konzept hinaus nach dem darin und dahinter Verborgenen sucht, nach dem „eigentlich Gemeinten“? Verweist Richters Abstraktion nach der „Birkenau“-Serie auf etwas anderes als vorher?

Rita Kersting: Auf der einen Seite sind die „Birkenau“-Bilder aufgrund des Themas ganz außergewöhnlich. Richter hat sich in seinem Werk schon früher mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, im Atlas zeigt sich, dass es seit Mitte der 1960er Jahre Versuche gegeben hat, das Grauen des Holocaust darzustellen. Auf der anderen Seite unterscheiden sich die Bilder formal nicht substantiell von anderen eher geschlosseneren Abstrakten Bildern, die ebenfalls durch ihre Titel eine Lesbarkeit in eine Richtung vorgaben, wie „Dezember“, „Bach“ oder „Cage“. Julian Heynen hat am Vorabend der Ausstellung einen differenzierten Vortrag zu „Birkenau“ gehalten. Die Frage, inwieweit Gemälde, in diesem Fall abstrakte Gemälde, in der Lage sind, den Holocaust in ein Bild zu übertragen, stand dabei zentral. Auch im „Birkenau“-Zyklus gibt es nichts „eigentlich Gemeintes“, eine solche Zuspitzung in eine (ideologische, aufklärerische, didaktische) Richtung ist Gerhard Richter fern. Insofern ist die Installation der neuen Bilder hier in der Ausstellung allein in einem Raum und nicht im direkten Zusammenhang mit der Sammlung sicher auch programmatisch: Es gibt zwar ein reiches Werk-Fundament, auf dem die Bilder aufbauen, aber sie sind auch isoliert zu betrachten, als Bilder, die aus der Gegenwart kommen.

Lothar Frangenberg: Das faktische Moment und der konzeptionelle Ansatz der Bilder lässt sie weit weg von Symbolischem, Schwärmerischem oder utopischen Gehalten erscheinen. Nur tendiert Richter nicht selber dazu, den künstlerischen Prozess des Malens zu mystifizieren? Er spricht immer wieder davon, dass sich die Malerei verselbständigt, die Bilder Eigendynamik entwickeln und sich von alleine fertig stellen. Er wird quasi zum Beobachter bei dem von ihm initiierten Malprozess. Man könnte meinen, ein zweiter, anonymer Autor kommt neben dem Künstler ins Spiel, der ihm, dem malenden Subjekt, gegenüber tritt.

Rita Kersting: Ja, auf der einen Seite scheint jedes Bild das Indexalische seines Entstehungsprozesses offen zu zeigen, die Spuren der Werkzeuge, die Farbschichten und auch das Nicht-Intentionale, den Zufall, der sozusagen geologisch anmutende Strukturen produziert, und Fragmente aus unterschiedlichen Bildschichten offenlegt. Auf der anderen Seite sind gerade bei den vielteiligen neuen Bildern oft die Elemente und Einheiten nicht mehr in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen. Das kann man Mystifizieren nennen, und es ist sicher ein Ergebnis der Dichotomie von der Sie sprechen, aber es gibt nur einen Autor, der eben mit beidem arbeitet, dem intentionalen Malen im klassischen Sinne und der Verwischung, der Verunklärung der offensichtlichen, subjektiven Geste.

Lothar Frangenberg: Auch wenn kein ausgeprägter Personenkult um Gerhard Richter besteht, so stellt sich manchmal ob der vielen Kataloge, Veröffentlichungen und Hypes um seine Arbeiten der Eindruck ein, es mit der Marke „Richter“ zu tun zu haben oder dem Genius, der alle Themen und Aufgabenstellungen meistert. Gibt es noch Anlass, sich zurzeit in einem positiven Sinne kritisch mit dem Werk auseinanderzusetzen? Ist nicht vorläufig alles gesagt, was sich sinnvoll über ihn äußern lässt?

Rita Kersting: Gerhard Richters Werk entwickelt sich immer weiter und hinzukommt, dass jede Zeit, und neue Umstände wieder eine neue Perspektive auf das Werk zulassen. Ich glaube, dass besonders die individuelle, subjektive Erfahrung der neuen Bilder eine Freiheit darstellt, die gerade im Moment bedeutungsvoll ist

Lothar Frangenberg: In manchen Interviews und Aussagen des Künstlers klingt an, dass das Potential der Malerei für ihn aufgebraucht ist. Hat jemand wie Richter für jüngere Künstlergenerationen noch Raum für malerische Auseinandersetzungen gelassen? Gibt es für Sie relevante, aktuelle malerische Positionen?

Rita Kersting: Richter hat immer schon an der Malerei gezweifelt und aus dieser Haltung heraus immer wieder faszinierende Bilder geschaffen, die Skepsis ist seinem Werk eingeschrieben. Seine philosophisch und konzeptuell fundierten Bilder stellen die Frage nach der Abbildbarkeit von Wirklichkeit. Er hat viele Generationen von Künstlerinnen und Künstlern beeinflusst, vielleicht sogar eher die, die sich nicht wie er als Maler sehen, sondern auch mit anderen Medien arbeiten wie Fotografie, Performance, Installation und Skulptur. Es gibt viele relevante aktuelle malerische Positionen: z.B. Avery Singer, Seth Price, Mernet Larsen, Leidy Churchman, Amelie von Wulffen, Zoya Cherkassky, Monika Baer, Wade Guyton, Tala Madani, R.H. Quaytman und Kai Althoff u.a..