18. Sep 2009

Utopics - 11. Schweizerische Plastikenausstellung Biel /Bienne
vom 30. August bis 26. Oktober 2009
Künstlerische Leitung: Simon Lamunière

Die Schweizerische Plastikenausstellung für zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum findet seit 1954 alle fünf Jahre in Biel/Bienne statt. Die Stadt wird im September und Oktober 2009 von 50 Interventionen schweizerischer und internationaler Künstler, Utopisten und Mikronationen mit ihren Arbeiten und Lebensentwürfen infiltriert. Die Projekte sind im Stadtzentrum, vorwiegend rund um den Bahnhof und das Kongresszentrum zu finden und an strategischen oder symbolischen Orten der Stadt Biel platziert.

Die Fragen stellte Lothar Frangenberg für kunstaspekte

Stadtraum



kunstaspekte: Biel erscheint als ein aktueller und unauffällig moderner Stadtraum im urbanen Wandel. Die typischen Entwicklungen kleinerer mitteleuropäischer Städte sind von der Industriebrache bis zur Migrationsproblematik deutlich ablesbar.
Ist der Bieler Stadtraum als Ort künstlerischer Eingriffe und Inszenierungen in der Stellvertreterrolle für viele ähnliche Stadtgefüge zu sehen oder geht es auch um die spezielle Auseinandersetzung mit der Bieler Situation, bei der etwas nachhaltig in das Gedächtnis dieser Stadt eingeschrieben wird?



S. Lamunière: Einerseits ist die Problematik des Öffentlichen Raums prinzipiell sehr wichtig: Wie können Ideen an einem Platz oder Territorium im stark belasteten urbanen Kontext erscheinen? Moderne Ideen, die neue Lebensmodelle entwickeln und neue Territorien erfinden, definieren und erobern.
 Anderseits bezieht sich die Ausstellung stark auf wesentliche Bieler Urbanismus- und Entwicklungsphasen (1920er Jahre, 1950er Jahre und den aktuellen Masterplan von 2004). Der Parcours führt durch Viertel, die diese Veränderungen widerspiegeln.


Ich bereite mit dieser Ausstellung der Infiltration durch andere Lebensweisen den Weg in den überplanten Stadtraum. Und auch der Erweiterung dieser Form von stadtplanerischer Wirklichkeit, ihrer Kopplung an virtuellere Layer und anderen Ausprägungen von Realität. Auf diese Weise hinterfragen wir nicht nur das urbane System, sondern auch die Beschaffenheit der Realität dieses Systems.



kunstaspekte: In Ihrem Einführungtext zum Ausstellungsparcours durch den Stadtraum heben Sie stark auf Themen wie Globalisierung, Digitalisierung und „Mediarealität und ihre immateriellen Aspekte ab. Die Aneignung neuer Territorien, begleitet von der erweiterten Perspektive auf utopische Potentiale, steht im Vordergrund. Sollen Gewichtung und Aufmerksamkeit damit bewusst über den konkreten Stadtraum hinaus auf soziale Kontexte, Netzwerke und politische Kalküle transzendiert werden?

S. Lamunière: Globalisierung und Medialisierung haben Distanzen und Maßstäbe verschoben. Die physischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten haben sich dieser Entwicklung entsprechend gewandelt. Das heißt, die Aktivitäten spielen sich – wie bei der Verbreitung von Viren – gleichzeitig auf individueller und globaler Ebene ab. Sie können mikroskopisch klein und lokal begrenzt sein und dennoch von umfassender Tragweite. Ein Einzelner kann den öffentlichen Raum infiltrieren wie ein Virus. Das Bild, das er erzeugt, sein Avatar, kann sich ausbreiten und einen Angriff auf die globalisierte Welt starten. Seine persönliche Utopie ist virtuell umsetzbar.


Angesichts einer globalisierten Welt, in der alles reguliert und geplant ist, scheinen die hier vorgestellten Projekte tatsächlich Alternativen zur globalen Ordnung darzustellen. Die vielfältigen Stimmen, die sich Gehör zu verschaffen wissen, bilden einen Kontrapunkt zur herrschenden Denkweise. Es wird immer Individuen oder Gruppen geben, die etablierte Wertsysteme hinterfragen, neue Ideen entwickeln und neue Forschungsfelder erschließen werden. Und die Teilnehmer/innen dieser Ausstellung gehören offensichtlich dazu.

Teilnehmer / Künstler



kunstaspekte: Welche Kriterien gab es für die Künstlerauswahl? Sind es z.B. die Strategien des Infiltrierens und der Subversion?



S. Lamunière: Die eingeladene Künstler/innen und Gruppen entwickeln extrem individualisierte Systeme, die gerade von der Unschärfe der heutigen Welt – zwischen Realität, Fiktion und Medialisierung – ausgehen. Manche wurzeln auf ganz realem Boden, andere versuchen sich diesen erst anzueignen. Doch selbst wo die Projekte im Internet angesiedelt sind, auf einer künstlichen Insel, in einem Schlafzimmer oder auf einem Blatt Papier, sind ihre Anliegen ebenso konkret wie idealistisch. Ob sie lokalisierbar sind oder nicht, sie stellen in sich eine Realität und ein Bekenntnis zum selbständigen Denken dar. Sie stellen per Affirmation in Frage.



kunstaspekte: Haben Sie in die Wahl der Standorte oder die Arbeitsprozesse eingegriffen?



S. Lamunière: Fast alle Teilnehmer sind nach Biel gekommen, um Standorte auszusuchen. Ich habe ihnen die Stadt und ihre Entwicklungen gezeigt. Wir haben jedes einzelne Projekt gemeinsam diskutiert, um konkrete technische Lösungen zu finden.



kunstaspekte: Sie erweitern den Kreis der Teilnehmer in Richtung Micronations, Utopisten, Spaßvögel oder Autokraten. Sehen Sie in dieser Kombination von Kunstschaffen und atypischen Gesellschaftsmodellen die „Kunst“ als den rahmenden Oberbegriff, wobei es im Einzelnen nicht mehr wichtig ist, ob die Arbeiten als Kunst gelesen werden oder nicht?



S. Lamunière: Diese Unschärfe ist weder zufällig noch belanglos. Manchmal treffen sich die Werte und Methoden der einen mit denen der anderen. Der Vergleich zwischen Kunstschaffen und atypischen Gesellschaftsmodellen ist Absicht. Er erlaubt es, gewisse Vorurteile zu entkräften, besonders wo es um Ideale, um die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft oder um die Kunst im öffentlichen Raum geht.


Besucher

kunstaspekte: Nicht jeder Besucher hat die Gelegenheit, alle Arbeiten im Stadtraum wahrzunehmen bzw. die Aktionen und Performances der Akteure zu besuchen. Fehlt ein wesentlicher Aspekt der Ausstellung, wenn man die interaktiven Momente des Parcours verpasst und nur das stationär Präsentierte aufnimmt?



S. Lamunière: In den ersten drei Tagen haben wir einige Projekten mit Live Events durchgeführt. Außer zweien (L’Ecole de Stéphanie und die Eurythmie-Veranstaltungen) sind alle Projekte immer noch zu sehen, also insgesamt 43 Werke. Wenn man Utopics besucht, kann man natürlich wie bei allen Ausstellungen etwas verpassen. Es ist im urbanen Kontext dennoch wichtig, dass man andere interessante Räume, Gebäude und Realitäten entdeckt.

Wir zeigen nur einige wenige „ Skulpturen“ im klassischen Sinne. Die meisten Interventionen nehmen eine dreidimensionale Form an, dahinter steht aber eine andere Vorstellung als die der Herstellung von Gegenständen. Die 43 Eingriffe befragen ihr Umfeld und stehen mit ihm in gegenseitiger Wechselwirkung. Unter den verschiedenen Projekten haben wir nicht nur solche zum Anschauen, sondern um über sie aktiv Erfahrungen zu machen, z.B. Höllers neue Umkehrbrillen, Solakovs Referendum zum Unterzeichnen, Golinskis Spukhaus, W+W’s ideale Galerie zum Tauschhandel.



kunstaspekte: Sie formulieren begleitend zur Ausstellung einen vielschichtigen Überbau bis hin zur Erweiterung des Begriffs der Utopie. Überfordern Sie den Besucher damit nicht, bzw. geht für ihn nicht der unmittelbare und intime Kontakt mit der Arbeit vor Ort verloren, indem Sie die Lesbarkeit der Arbeiten durch Kategorisierung vorgeben?



S. Lamunière: Die Welt ist vielschichtig. Das ist unsere aktuelle komplexe Realität, in der jeder sich bewegen muss. Die Ausstellung sowie jede individuelle Intervention der Künstler sind Teil dieser Welt. Mein Konzept steht präzise dafür, dass jede originäre Stimme ihren Platz finden kann und muss. Dadurch kann der Besucher auf sehr direkte Art jede Arbeit in ihrer Eigenart wahrnehmen und genießen – Neugierde natürlich vorausgesetzt. In Bezug auf die angesprochene Kategorisierung meine ich, dass jede Arbeit eigenständig genug ist, um in perfekter Art und Weise für sich selber zu stehen und die in ihr enthaltene Idee auszudrücken. Das ist der Grund, warum der Betrachter sie würdigen und schätzen lernen kann.



kunstaspekte: Was erwarten Sie von den Besuchern der Ausstellung? Welche Verhaltensweise würde Sie enttäuschen?



S. Lamunière: Da wir uns im öffentlichen Raum befinden, haben wir immer Angst vor Vandalismus oder respektlosen Haltungen. Die Positionen, die wir zeigen, sind diskret, aber gleichzeitig sehr provozierend. Weil es vor allem um die Formalisierung von Ideen geht und darum, sich mit einem bestimmten Territorium auseinander zu setzen, erfasst der Besucher, weshalb die konkrete Arbeit exakt an diesem Ort platziert ist.
Generell möchte ich, dass man die Erfindung von originären Konzepten und Ideen, mit denen man neue Bilder der Welt entwickeln kann, aufwertet.

Kurator



kunstaspekte: Gibt es schon ein Fazit, welche kuratorischen Ziele sich umsetzen ließen und welche nicht?



S. Lamunière: Es gibt keinen Unterschied zwischen meiner Konzeptskizze von 2007, die ich der Stiftung vortrug, und der Realisierung 2009. Als ich meinen Text zum damaligen Konzept noch einmal las, war ich überrascht festzustellen, dass damals alles schon angelegt war und heute noch zutrifft.



kunstaspekte: Wie sieht Ihre persönliche „Vision“ in Bezug auf die Wirksamkeit der Ausstellung aus?



S. Lamunière: Infiltration ist mir sehr wichtig. Ideen sind wie Viren, die sich dort verbreiten und entwickeln, wo es ein Potenzial gibt. Und dass werden wir nie voraussehen und messen können.
In Genf haben wir mittlerweile sechs Neon-Arbeiten auf den Dächern um einen Platz integriert (http://www.neons.ch). Wir stellen seit 2007zwei Werke pro Jahr auf. 2010 werden also insgesamt acht installiert sein. Die Wirksamkeit ist immer noch kaum zu spüren. Es gab keine Aufregung oder Beschwerden. Sehr ungewöhnlich für ein so großes Kunst-am-Bau-Projekt! Wenn ich mit anderen Verantwortlichen über Kunst im Stadtraum spreche, bemerke ich aber schon, dass unsere Ideen einen gewissen Einfluss darauf haben, wie man über das Verhältnis zwischen Kunst und dem städtischen Umfeld, den urbanen Maßstab solcher Projekte und die Entwicklung der Stadt insgesamt nachdenkt.