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Eine Ausstellung mit Arbeiten Berliner Künstler ist - obwohl wir so nahe nebeneinander leben und schaffen - ein recht seltenes Ereignis in Polen. Die polnische Öffentlichkeit hat nur einen begrenzten Überblick über das künstlerische Schaffen in Deutschland. Diese Ausstellung und deren ganze Vorbereitungsphase hat wie ein ungewöhnlich empfindlicher Seismograph die immer noch gigantische Lücke in den gegenseitigen künstlerischen Kontakten registriert und aufgezeigt. Uns wurde bald klar, dass das Zuschütten dieser Kluft und das gegenseitige Kennenlernen weder leicht noch besonders schnell vonstatten gehen wird. Offen gesprochen: wir wissen, dass Berliner Künstler kein besonderes Interesse daran haben, in Slupsk, Ustka und nur ein bedingtes in Warschau auszustellen. Die Ausstellung "Uwaga Berlin!" ist eher eine romantische, eigensinnige Geste von ihrer Seite, als ein von Eigeninteresse geleitetes Projekt.

Die Ausstellung "Uwaga Berlin!" ist auch aus einem anderen Grund möglich geworden: ohne die leidenschaftliche Zusammenarbeit von Joachim Reck mit unserer Galerie und den 10 herausragenden Berliner Künstlern hätte sie nicht stattfinden können.

Die Person Joachim Reck verkörpert ein besonderes Zusammentreffen von Umständen. Er vereinigt in sich die positive Energie eines Künstlers und Organisators, welcher sich sowohl in der polnischen Realität, als auch in der Berliner Kunstszene ausgezeichnet auskennt. Er ist ein Mensch, der von Deutschen und Polen gleichermaßen geschätzt wird (keine Selbstverständlichkeit!).

Dank Joachim Reck haben wir also einen wertvollen Einblick in die Kunst von Künstlern, die in Berlin leben und arbeiten. Wir haben diese Ausstellung entwickelt, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf Kunst zu lenken, die in einer Stadt geschaffen wird, welche ungewöhnlichen Umwälzungen ausgesetzt war und ist. Ich habe die Hoffnung, dass die Rezeption dieser Präsentation nicht nur das Nachdenken über die Kunst, sondern auch über wichtige Aspekte von Kultur, Politik und Gesellschaft, befördert.

Berlin unterscheidet sich grundlegend von anderen deutschen Städten. Berlin hat viele Gesichter. Es ist rau, authentisch, es lockt nicht mit falschen Versprechen. Fährt man von Osten über Marzahn und Lichtenberg in die Stadt hinein, bietet sich ein völlig anderes Bild als im alten Westberliner Zentrum um den Bahnhof Zoo, oder im alten Ostberliner Zentrum, am Alexanderplatz und Unter den Linden. Es zeigt sich ein anderes Berlin, wenn unser Weg durch Pankow und Prenzlauer Berg führt, als wenn wir uns in der Gegend von Checkpoint Charlie, in Kreuzberg oder in der nördlichen Friedrichstrassebefinden.

Berlin ist eine Stadt, die zum Nachdenken zwingt. Zum Revidieren der eigenen Ansichten und zum Verifizieren der eigenen Empfindsamkeit. Und dies beinahe beim jeden Schritt. Die Straßen, Plätze, Hinterhöfe greifen uns mit politisch korrekten Graffitis an, aber auch mit brutalen Meinungen zum Thema des Lebens in dieser Stadt. Die gewöhnliche, politische Agitation mischt sich mit subkulturellen, anarchistischen und individuellen Gedanken. Man spürt förmlich die in der Luft hängende Tendenz zur Infragestellung des RechtHabens des Anderen, aber auch das Verständnis für den Fehler, das NichtGelungene oder den Mangel an Erfolg. In Berlin sind die exemplarischen Ikonen des Kapitalismus weniger sichtbar als in den anderen europäischen Hauptstädten. Die NachDDR Mentalität reibt sich mit den "moderneren" Ansichten der Zuzügler nicht nur aus West-Deutschland, sondern auch aus USA, Großbritannien, Skandinavien, Polen, der Türkei, Jugoslawien und Russland. Die Temperatur der Diskussionen, der offensichtliche Bankrott von versteinerten Ideologien, zwingen alle zu einer Grund-Toleranz, aber auch zum ungewöhnlichen Nachsinnen über das Leben. Ein vielschichtiges Nachdenken, das sich zwischen der Scham um die eigene Geschichte und der einfachen Hoffnung um ein neu entworfenes Morgen, bewegt.

Die Identität Berlins, der Kulturkessel, wandelt sich in einen augenscheinlichen, feinen Programm-Snobismus. Das neue Berlin möchte ein europäisches New York sein. In der Architektur, aber vor allem in der Kunst. Durch die parallelen Ausgaben überwältigender Großausstellungen des PS1, MoMa oder Guggenheim Museum werden diese Ambitionen immer deutlicher. Wir können uns selbstverständlich von dieser Tendenz distanzieren, und uns jenem inoffiziellen, pulsierendem und unterfinanzierten Teil des Herzens Europas (Berlin) zuwenden: private Galerien, eigenständige Künstlerprojekte, alternative Festivals, usw.

Eins ist sicher. In dieser Stadt spürt man die postmoderne Freiheit, eine besondere Art von Melancholie, Bescheidenheit, Ernsthaftigkeit, Nachdenklichkeit, und das Fehlen von Regeln, die aufgezwungen werden. Die zeitgenössische Richtungslosigkeit in der Kunst fügt sich ideal in das gesellschaftliche und materielle Gewebe Berlins. Hier kann man auch hervorragend die Gleichzeitigkeit verschiedener Haltungen oder wenig definierter Tendenzen beobachten. Manchmal thematisieren die Künstler traumatische Erfahrungen des eigenen Lebens in einer Großstadt. Sie machen auf gefährliche Absurditäten aufmerksam, reagieren, warnen, machen sich lustig, sie entwerfen neue Räume, wissen aber auch die Bedeutsamkeit der einfachen Dinge zu schätzen, welche in der allgegenwärtigen Alltäglichkeit auftauchen.

Tatjana Doll vergrößert Schilder, Sicherheits-Symbole und führt diese durch Übergrößen zum Absurden. Gleichzeitig stellt Sie die Frage, in welche Richtung wir uns tatsächlich bewegen sollen, nicht nur in einer bedrohlichen Situation, einer plötzlichen Panik. Und ob wir überhaupt über die Möglichkeit verfügen, eine sinnvolle Richtung einzuschlagen. Weg? Flucht? Paradoxe Bestrebungen?

Joachim Grommek nutzt sein hervorragendes, malerisches Bewusstsein. Er malt eindrucksvoll, frei, mit einer großen Portion Humor. Er arbeitet etwa mit trompe l´oeils von farbigen Klebebändern und von gewöhnlicher Spanplatte. Als ob er uns überzeugen wollte, dass Malerei fast allgegenwärtig ist, als ob es genügen würde, sich nur umzudrehen. Die scheinbare Leichtigkeit, die scheinbare Einfachheit in der Bildherstellung kann uns der Täuschung aussetzen, dass jeder so malen kann. Grommek versucht nicht, uns vom Gegenteil zu überzeugen, weil ihm bewusst ist, dass Malerei nur zum Anschein ein leichtes Spiel ist.

Thomas Kiesewetter ist Bildhauer. Er entwirft seine Arbeiten nach eigenen Regeln, die sich beinahe automatisch durch das spezifische Material ergeben. Diese widerspenstigen Materialien, lackierte gewellte Bleche, irgendwelche Reste und Überbleibsel, erzwingen ihre eigene Logik von Verbindungen und Koexistenz. Kiesewetter schafft eigentümliche, manchmal anekdotische RaumErzählungen, er schafft eigene Setzungen, welche seine Skulpturen darüber hinaus von einer ewigen Erhabenheit abtrennen. Die Skulpturen von Kiesewetter sind ein wenig naiv, poetisch, wie von Kinderhand gemacht. Sie machen einen wenig soliden Eindruck. Sie erinnern uns an die Ästhetik von provisorischen, privaten Konstruktionen der 70er Jahre.

Andreas Koch ist durch Film und Fotografie vertreten. Der Film ist absolut genial. Selten treffen wir auf die Idee des Abfilmens einer Fotografie. Einer Fotografie, die per digitaler Bildverarbeitung von Werbeschildern, Autoverkehr, Menschen bereinigt wurde. Der Held des Filmes ist die Adalbertstraße in Kreuzberg. Diesen Film kann man interpretieren, ohne irgendetwas über diese "normale" Straße zu wissen, oder Ihre Vergangenheit zu kennen. Andererseits wissen wir, dass das Foto von der Westberliner Seite aus in Richtung Osten gemacht wurde. Niemand, absolut niemand, der die Straße nicht kennt, würde auf die Idee kommen, dass dort die Mauer verlief. Während der Film uns durch diese Straße während eines 20 minütigen Zooms spazieren führt, verstehen wir nicht, warum sie, einst geteilt durch die Mauer, nicht mehr den abgrundtiefen Unterschied zwischen dem westlichen und östlichen Berlin zeigt. Es sieht so aus, als ob es hier nie eine Mauer gegeben hätte. Die Straße ist zusammengewachsen, die Brüche sind verheilt. Ein ähnlicher Eingriff, vollzogen auf den Fotografien vom "Rosenthaler Platz", erzielt einen komplett anderen Effekt. Zum Protagonisten der Fotografie wird die Architektur, die von "Verunreinigungen" gesäubert wurde. Der reale Rosenthaler Platz strahlt mit seiner Durchschnittlichkeit, die Häuser aus der Fotografie von Koch machen uns neugierig und bringen uns zum Nachsinnen.

Ingeborg Lockemann beginnt mit Fotografien. Später malt sie nach ausgewählten Fragmenten aus den Fotografien. Tatsächlich malt sie nur die Schatten von Gestalten, welche von einer nicht existenten Lichtquelle beleuchtet werden. Es entsteht eine Erzählung, die erst im Kontext ihres Ausgangsmaterials an Deutlichkeit gewinnt. Aber es geht hier nicht um Wortwörtlichkeit. Lockemann richtet unsere Aufmerksamkeit auf scheinbar unbedeutende Dinge. Sie sieht ihre tiefere Bedeutung, bemerkt ihre Absurdität, um an einer anderen Stelle ein unglaubliches Drama aufzuspüren. Sie entwickelt ihre Arbeiten jeweils für den konkreten Ort, (hier Slupsk) aus Wirklichkeitsfragmenten, die sie dort vorfindet.

Rene Lück beschäftigt sich mit politischer und zeitgeschichtlicher Symbolik. Meiner Meinung nach ist er ein politischer Künstler. Er baut eigene Modelle von Tribünen, er ironisiert politische Ästhetiken: wunderschöne Flaggen in sauberen Farben, in verschiedenen Anordnungen. Lück schafft ästhetischpolitische Mutmaßungen. Er verändert sein Ausgangsmaterial, setzt es anders zusammen oder transponiert es bildhauerisch in ein anderes Material. Er denkt darüber nach, ob irgendein NationalSymbol (oder auch nur ein städtisches) nicht auch anders aussehen könnte.

Wir wissen nicht genau, ob die Installationen Isa Melsheimers utopische Entwürfe sind, Vor schläge zur Gestaltung unserer Lebenswelt, oder eine exzentrische, hyperindividuelle Lebensart entwerfen und ironisieren, welche Globalisierung und Standarisierung ignoriert. Es hat den Anschein, daß es in den Arbeiten von Isa Melsheimer einen roten Faden von einem für sich individuell konstruierten LebensRaum gibt. Immer mit einem ästhetischen Angebot.

Thomas Ravens ist ein Visionär, welcher katastrophenartige und gleichzeitig groteske ZukunftsEntwürfe schafft. Warnend und mahnend vor einer karikaturartigen Entwicklung der Zivilisation, in 50 oder 100 Jahren. Wenn man die früheren Arbeiten von Thomas Ravens analysiert, kann man sicher sein, dass der Künstler einen menschlichen, antitotalitären Maßstab von seiner Umgebung einfordert. Seine neuen futuristischen Arbeiten kann man als Warnung lesen, dass der Mensch früher oder später zum Teilchen einer großen Maschine wird.

In der Kunst von Joachim Reck ist Berlin nicht existent. Der Künstler beschäftigt sich mit Bildern von Reisen. Mit Bushaltestellen, verlassenen Häusern oder wunderschönen Konstruktionen gestapelter Strohballen auf offenem Feld. Er ist von einer degradierten, wehrlosen und wenig effektiven Welt fasziniert. Er begeistert sich an der Schönheit der Einsamkeit, der Verlassenheit, an dem Zauber von Existenz einfacher Objekte, irgendwo weit weg. Der Künstler macht ihre Gewöhnlichkeit vollkommener oder bestreitet Ihre Hässlichkeit.

Wawrzyniec Tokarski lebt in Berlin. Er ist komplett unbekannt in Polen. Der Fall von Wawa ist hier ein gutes Beispiel für das lückenhafte Wissen bei uns über das, was in Berlin passiert Jedes Zentrum, jedes Land schafft sich seine eigene Mythologie, und es wird wohl dabei bleiben, dass Tokarski ein Berliner Künstler bleibt, obwohl er auch polnische Kontexte in seine Kunst einführt. Wawrzyniec benutzt die Ästhetik von Comics, er schafft kurze Erzählungen.

Tim Trantenroth lenkt seinen Fokus auf die Beobachtung von Architektur. Er schafft seine abstrakten, konstruktivistischen Strukturen, die man als Realität wahrnehmen kann. Und umgekehrt, mit dem großen Andrang an einfachen Blöcken muss man irgendwie leben. Es gelingt ihm uns in seine Faszination für diese Modulfolgen hineinzuziehen. Dadurch fordert er uns paradoxerweise heraus, Vorschläge zu ihrer Änderung zu entwickeln.

Ergänzend zu den Einzelpräsentationen wurden die Arbeiten von 25 VideoKünstlern in der "Berlin Video Lounge" vorgestellt. Man kann hier nicht alle Werke besprechen, aber dieser in die Ausstellung integrierte Teil war eine schöpferische Komplettierung der GesamtPräsentation. Er hat uns die so stark in Berlin wahrgenommene Intensität und Vielfältigkeit der Kunst nähergebracht

Teilnehmende Künstler der "Berlin Video Lounge": Ingeborg Lockemann, Andreas Koch, Anette Rose, Jan Eilhardt, Sven Flechsenhar, Ursula Döbereiner, Bettina Allamoda, Park June Bum, Susanne Bürner, Andrea Pichl, Rabea Eipperle, Andreas Schimanski, Maja Weyermann, Janine Rostron, Gregor Hildebrandt, Tim Trantenroth, Eva Seufert, Wawrzyniec Tokarski, Judith Hopf, Alice Kwade, Sofia Hulten, Elke Mohr, Markus Wirthmann, Tina Born.

Wladyslaw Kazmierczak

Auf den ersten Blick könnte man eine Ausstellung Berliner Künstler in Polen für eine schlichte Umkehrung raumzeitlicher Koordinaten halten: Räumlich wird diejenige erfreuliche Bewegung umgekehrt, die polnische Künstler seit einigen Jahren vermehrt in bundesdeutsche und Berliner Ausstellungsorte transportiert; wenn Berliner Künstler nun in Polen ausstellen, könnte man das schlicht für eine Retourkutsche halten.

Diese Inszenierung einer räumlichen Bewegung korreliert mit einer Manipulation der Zeitachse. Schließlich stellt eine postsommerliche Ausstellung deutscher Künstler nahe der pommerschen Ostseeküste keine Premiere dar. Sie situiert sich topographisch an einem kunsthistorisch verbürgten Ort: In der Nähe des 25 km entfernten Rowy, wo diverse BrückeKünstler ihre Sommerfrische verbrachten. Es ist jedoch nicht der selbe Ort, an den folgerichtig auch nicht zurückgekehrt wird. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Neuauflage von raumzeitlichen Koordinaten, enttarnt diese Identität von Raum und Zeit auf den zweiten Blick schonungslos. Jenseits des Glaubens an Symmetrie und Simultanität machen die Arbeiten der ausgestellten Künstler weniger die Identität als die Differenz stark, von der man seit Deleuze weiß, dass sie in jeder Wiederholung schlummert: Der Weg aus der Bundesrepublik an einen polnischen Ausstellungsort ist weder räumlich noch historisch mit einem anderen vergleichbar. Sowohl auf der topographischen als auch auf der chronologischen Achse gibt es keine Umkehrung der Blickrichtungen.

Genau diese Singularität und Differenz des Transfers ist es, die von den gezeigten Arbeiten demonstriert wird. Insofern ist es keineswegs zufällig, wenn die Themen der Topographie und der Landschaft, der Architektur und der Konstruktion, der Öffentlichkeit und der Orientierung, der Medien und ihrer Materialitäten ganz oben auf der Tagesordnung dieser Ausstellung stehen. Diese Themen zeigen allesamt, wie weit sich die zeitgenössische Kunst von jeder Form der Autonomie verabschiedet hat. Der melting pot Berlin kann durchaus als die Speerspitze dieser Entwicklung angesehen werden, in der die Welt eher als Verkehrsschild denn als unabhängiges Kunstwerk erscheint.

Die sich wandelnde Öffentlichkeit beispielsweise wird weniger als demokratischer Versammlungsort und vielmehr als konstruierter Raum wahrgenommen, durchschossen von Medien und torpediert von Kalkülen. Innerhalb dieser anonymisierten Masken der Demokratie verändern sich die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen rasant. In unbehau sten Räumen denen aber keine Vision einer heimatlichen Gemütlichkeit gegenüber steht löst sich das Bekannte mit der Geschwindigkeit der neuen Medien auf. Auf diese Öffentlichkeiten ohne Orientierung wird von den Künstlern ein detailgenauer Blick geworfen, der das Mikroskopische mit dem Futuristischen verbindet. Die eingesetzten Verfahren bieten eher lokale Detailaufnahmen als globale Analysen, verbinden das Private mit dem Politischen, das Soziale mit dem Asozialen und Landschaften mit ScienceFiction.

Landschaften werden aufgezeichnet, verschoben und neu zusammengebastelt egal ob in Stadt oder Land. Nicht die Elektrifizierung, sondern die manische Konstruierung von immer neuen Räumen hat urbane und ländliche Räume ebenso miteinander verkeilt wie die Metropolen mittlerweile als megalomane Netze erscheinen: als Netze mit gleichgeschalteten Geschwindigkeiten. Was einmal Topographie hieß die Kunst der Beschreibung der Landschaft wird plötzlich in topologischen Kalkülen aufgelöst, so dass jede Landschaft am Ende als Rechnerlandschaft erscheint. Heuhaufen als Pixelhaufen und Brandenburger Tore als mediale Historiographien.

Bevor Borges Vision von der Verschmelzung von Karte und Landschaft ausgeführt ist, bleibt noch allerhand zu tun: Landschaften lassen sich auflösen an Bildschirmen; Architekturen lassen sich erweitern zu Bildräumen; topographische Miniaturen lassen sich verschieben in Installationen; Materialitäten lassen sich imitieren in Malereien. Immer sind es die Verschleifungen zwischen dem Realen und dem Künstlichen, die plötzlich zu Signalen und Blinklichtern werden. Rückkopplungen zwischen Angeeignetem und Gemachtem, Gefundenem und Erfundenem, Materialität und Darstellung lassen eine neue Art der Bildlichkeit erscheinen. Man befindet sich nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Fiktion, sondern ist auf der Durchreise zwischen Fiktion und Konstruktion.

Ingeborg Lockemanns Arbeit "Angeln in Slupsk" beispielsweise basiert zwar auf örtlichen Wartenden, die auf Fische hoffen oder auf ein Tor. Doch werden diese Ausgangsdaten von ihr auf eine mediale Reise geschickt, in Piktogramme verwandelt und anschließend in eine ganz neue räumliche Situation transformiert. Ihre ausgeschnittenen, tapezierten und am Ende projizierten Acrylbilder sehen aus wie Wartende im Weltraum. Thomas Ravens steuerte ultrahybride Landschaften aus dem 22. Jahrhundert mit erfundenen Gebäuden in erfundenen Topographien bei. Der ScienceFictionPop seiner marsmenschenmonumentalen Architekturen zwischen Freizeitpark und Überwachungstaat transformiert einen Raum in den nächsten, Stadt in Land, Zukunft in Vergangenheit, Petersburg in Leningrad.

Auch Wawrzyniec Tokarski befindet sich auf Zeitreisen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Er schickt seine CaptainFutureFiguren nicht in den Welt, sondern in den Ausstellungsraum. Auf großformatigen Papierrollen werden intergalaktische Botschaften verbreitet, gekontert mit einem polnischen Wappen, das in dem ortlosen Setting eine merkwürdige Territorialisierung bewirkt. Auch Isa Melsheimer hat eine fiktive örtliche Situation gebastelt. Ihr zwischen Skulptur und Architektur, Interieur und Installation changierendes Gebilde versetzt nicht nur die räumlichen Koordinaten in Bewegung, sondern auch deren Begrifflichkeiten: Zwischen drinnen und draußen, Interieur und Architektur, Möbel und Modell arbeitet sie an einer zunehmenden Verwirrung des Status ihres Ortes dem man am Ende anders als Tokarski nicht den Ausstellungs, sondern den Weltraum zuschreiben kann.

Eine ganze Reihe von Arbeiten sucht festen Halt an stabilen Orten um die scheinbare Stabilität jedoch gleich wieder an verwirrende Basteleien zwischen den Räumen auszuverkaufen. Thomas Kiesewetter zeigt eine industrielle Skulptur, die aussieht wie ein ausgebautes Maschinenteil. Sein zwischen Design und Funktion changierender Aufbau könnte auch eine Architektur sein. Tim Trantenroth eignet sich in seiner Malerei Fassadenverkleidungen an. Doch auch die Zeichen des festen Ortes werden zum Flottieren gebracht, indem der Außenraum im Innenraum einer Ausstellung gezeigt wird. Aus dem zweidimensionalen Bild wird ein zweiteiliger Bildraum, indem die beiden Teile des Bildes um eine Ecke gehängt werden. Spiele zwischen Ort und Ortlosigkeit, Zwei und Dreidimensionalität spielt auch Andreas Koch. Die Bilderserie "Rosenthaler Platz" lässt die fünf Seiten des Platzes Revue passieren, aus denen jedoch mittels digitaler Bildbearbeitung alle semantischen und nichtarchitektonischen Zeichen getilgt sind. Gerade die Vertrautheit der Ansicht eines plötzlich kahlrasierten Ortes lässt den verunsicherten Blick abstürzen. Die Arbeit "Adalbertstraße" überführt das zweidimensionale Foto einer Straße in einen dreidimensionalen Bildraum, der eine surreale Maßstäblichkeit zwischen den Dimensionen einführt.

Joachim Reck malt singuläre Architekturen wie Bushaltestelle und Reihenhaus oder ephemere Monumente wie einen Heuhaufen. Durch Verschickungen zwischen den Medien werden die beruhigenden Örtlichkeiten zu beunruhigenden Orten des Unheimlichen. Eine Bushaltestelle ohne Wartende verwandelt sich plötzlich in einen Schlund ins Unabsehbare. Nicht Bushaltestellen, sondern gemalte Verkehrszeichen haben Tatjana Doll bekannt gemacht. In plakatwandgroßen Malereien führt sie mit Vorliebe Zeichen des Öffentlichen vor, denen Vektoren der Bewegung und Befehle der Steuerung eingeschrieben sind. Bewegungen von Blicken und Steuerungen von Emotionen werden auch in einem Kinosaal produziert, den Doll in einer vierteiligen monumentalen Topographie zeigt. Die abgemalten Kinositze zeigen einmal nicht das Betrachtete (wie z. B. Verkehrszeichen), sondern die Konstruktion eines statischen Betrachterstandpunktes, von dem aus er von der Kinoleinwand ferngesteuert werden kann.

Auch René Lück dockt seine Installationen zunächst an klare topographische und historische Koordinaten an: Hier ist die Tribüne vor dem Brandenburger Tor, auf der der Filmschauspieler Ronald Reagan 1987 ein paar Worte sagte; dort sind die Fahnen der Gründungsstaaten der europäischen Gemeinschaft 1956. Durch die Wiederholung der örtlichen und historischen Koordinaten in widerspenstigen Materialien wird eine Reibung erzeugt zwischen Ereignis und Inszenierung, Erinnerung und Mythos: Das Ereignis wirkt nicht nur wie ein zu oft gezeigter Film; die glatte filmische Erinnerung wird durch die materielle Rohheit entstellt. An Ereignisse nicht der Geschichte, sondern der Kunstgeschichte dockt Joachim Grommek seine Bilder an. Ausgehend von konkreten kunsthistorischen Formaten inszeniert Grommek eine serielle Befragung der Bilder, die ebenfalls durch gezielten Einsatz von Materialitäten bloßgestellt werden. Wenn Grommek beispielsweise die rohe Materialität einer Spanplatte auf eine Spanplatte malt, dann wird ein elegantes Spiel zwischen Bild und Bildträger, Oberfläche und Grund aufgemacht, in dem jedes Zeigen noch etwas verbirgt.

Die wirklichen Reisen dieser Künstler finden nicht zwischen Nationen statt und auch nicht zwischen Begriffen oder Konzeptionen. Die wirklichen Transfers, die in diesen Arbeiten erscheinen, sind solche zwischen den Medien. Nicht nur die Malerei hat sich in eine Forschung zwischen den Medien aufgelöst, zwischen deren unterschiedlichen Formaten und Formatierungen sie ihre Daten hin und herschickt. Alle Arbeiten sind durch die multimediale Verschränkung und Vernetzung von ehemals getrennten Medien gekennzeichnet: Ob sich Malerei öffentliche Situationen oder architektonische Zeichen aneignet oder ob sich Fotografie auf den Film hin öffnet; ob historische Situationen in Installationen überführt werden oder alltägliche Situationen in hübsche Piktogramme; ob das Bild auf seine eigene Historizität geöffnet wird oder auf den ScienceFiction von Morgen: Jede Nachbarschaft wird erforscht, kein Grundstück genügt sich noch selbst, alles wird schließlich mit allem verbunden eine Art mediale Raumauflösungsparanoia kündigt sich an.

Was diese Arbeiten vor dem netzwerkartigen Kollaps schützt, ist ihr Rückhalt in spezifischen Materialitäten. Alles ist zwar mit allem vernetzt, aber alles hat auch seinen Ort. Vernetzen lässt sich nur das, was auch einen Ort hat. In dieser Insistenz auf die unauslöschbare Örtlichkeit der Arbeiten, die irreduzible Materialität jedes Mediums, liegt vielleicht ein Signal auf der Durchrei-se. Es geht also nicht nur um einen Querschnitt durch die jüngste Berliner Kunstproduktion oder die Stars von Morgen: Nicht ohne Grund werfen sie einen geschärften Blick auf die räumlichen und zeitlichen Koordinaten, in denen sich ihre Kunst bewegt. Womit sich der Eindruck eines eingefahrenen Gleises, das sich beim Transfer Deutschland-Polen mittlerweile aufdrängt, verschoben, aufgebrochen und gesprengt wird: Achtung Berlin.

KNUT EBELING