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Agnes Scherer
Savoir Vivre
27.5. – 6.8.23

Der Heidelberger Kunstverein kündigt die umfangreiche Einzelausstellung Savoir Vivre der in Berlin und Salzburg lebenden deutschen Künstlerin Agnes Scherer (*1985) an.

Inmitten der hohen Halle des Kunstvereins entfaltet sich standbildartig das düstere Bild eines ritterlichen Lanzenstechens. Einer der zwei aufeinander zugaloppierenden Reiter wird von der Lanze des Gegners getroffen. Als Zuschauerinnen reihen sich zwölf gestikulierende Hofdamen auf der Tribüne aneinander. Sie beobachten und kommentieren das Geschehen.

Der geschilderte Wettbewerb auf Leben und Tod findet nicht real statt. Die Ritter und Damen entpuppen sich als Skulpturen aus bemaltem Papiermaché. Das Mienenspiel und die Haltungen der Figuren wirken marionettenhaft. Kein Blut fließt.

Für ihr neues Projekt Savoir Vivre hat Scherer die hohe Ausstellungshalle des Heidelberger Kunstvereins in einen mittelalterlichen Turnierplatz mit Tribüne transformiert und das Fortleben der Kultur „hoher Minne“ in der fiktionalen Überhöhung der „Frau“ — zum Preis und Zweck des Wettbewerbs — in aggressiv kompetitiven Männergesellschaften thematisiert.

Bei näherer Erkundung entdecken die Besucher:innen der Ausstellung, dass man die puppenhaften Halbschalen-Bildnisse der Hofdamen von hinten betreten kann. Von dort lässt sich durch präzise ausgerichtete Augenlöcher die Aufführung martialischer Männlichkeit in der Halle betrachten. So lässt Scherer die Besucher:innen das Geschehen im übertragenen Sinne mit den Augen der Hofdamen sehen. Mit dieser Blickregie – nämlich mit der Manipulation unterschiedlicher Perspektiven – denkt Scherer darüber nach, wie die Diskrepanz zwischen dem Selbsterleben der Turnierkämpfer und dem Zugang der Frauen auf der Tribüne neu verhandelt werden kann. Denn wir wissen nicht, wie Frauen im Hochmittelalter die Turniere, die angeblich zu ihrer Ehre abgehalten wurden, tatsächlich wahrgenommen haben.

In gewisser Weise ist daher einer der Gegenstände der Ausstellung – die weibliche Perspektive auf das Geschehen – eine unmögliche Perspektive. Die begehbaren Hohlfiguren oszillieren in diesem Sinne zwischen Rekonstruktionsversuch und Verkörperung dieser Leerstelle. Scherer karikiert, wie die symbolische Erhöhung der realen Erniedrigung der Frauenrolle gleichkommt. Ihre künstlerische Recherche zeigt: Nach Turnieren rühmten sich Minne dichtende Ritter ihres „Lanzenverbrauchs“, des Verschleißes von Material und Leben im Zeichen hohler Ehre, zum Wohle von niemandem.

So verdeutlicht das Projekt auch, wie die Kultur der hohen Minne als Blaupause für das heteronormative bürgerliche Liebeskonzept und dessen neurotischen Gehalt dient.

In der Stadt Heidelberg und in Baden-Württemberg kann Savoir Vivre in vielerlei Hinsicht auch als ein ortsspezifisches Projekt interpretiert werden. Man denke allein daran, dass sich Heidelberger Kulturverantwortliche mit immensem Aufwand nach dem Zweiten Weltkrieg dafür einsetzten, den Codex Manesse – eine bedeutende mittelalterliche Handschrift illustrierter Minnelieder – in die Universitätsbibliothek Heidelberg zurückzuholen. Und in der Region Baden-Württemberg und den umliegenden Gebieten werden zahlreiche Mittelalter-Spektakel und nachgespielte Ritterturniere veranstaltet, darunter insbesondere der jährlich stattfindende Mittelaltermarkt in Esslingen und die Ritterspiele in Horb am Neckar oder auf Schloss Kaltenberg in Oberbayern, wo Martialität „authentisch" inszeniert wird.

So wirft Savoir Vivre die politisch aktuelle Frage auf, warum sich heute so viele Menschen zumindest vorübergehend nach einer Welt zurücksehnen, deren gesellschaftliche Strukturen auf stereotypen Geschlechterrollen und einem kaum überwindbaren autoritären Klassensystem basierten.

Kurator
Søren Grammel