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Alice Cattaneo. Recursive

20.11.2020 - 21.02.2021

More and more I consider my work as classic traditional sculpture.
Alice Cattaneo

Alice Cattaeno schafft in Recursive ein Gefüge aus skulpturalen Entitäten, das sie nicht als Installation, sondern als Raumskulptur verstanden wissen möchte. Geprägt durch die angelsächsische Kunst der 2000er-Jahre und deren Infragestellung von klassischen Werkbegriffen wie Malerei und Skulptur zeigen ihre früheren Arbeiten noch dekonstruktive Züge, sie mündeten durchaus in installative Inszenierungen. In den vergangenen Jahren emanzipierte sich die Künstlerin von dieser Prägung und bezog sich zunehmend auf ihre eigenen kulturelle Wurzeln: „Coming from Italy you have this strong artistic tradition, you cannot avoid tradition, you cannot avoid form.“ Cattaneos Werk entwickelte sich immer mehr in Richtung eines klassischen Verständnisses von Skulptur. So bilden elementare skulpturale Fragen, beispielsweise nach der Vertikalen, dem Horizont, nach Gewicht bzw. Leichtigkeit, bestimmende und durchgängige Reflexionsfiguren, an denen sich die Künstlerin abarbeitet.

Cattaneos Arbeiten werden materialsprachlich und morphologisch von Gegensätzen bestimmt, sie verkörpern Dichotomien und Antagonismen. Dabei sind ihre Skulpturen weder manifeste Setzungen noch filigrane, mobile-artige Gebilde, sie sind vielmehr sowohl präzise Artikulation als auch prekäre Gestalt. Die Skulptur vermittelt dabei einen Zustand der Schwebe, jedoch auch der Spannung zwischen den Polen, als würde sie zwischen ihnen vermitteln, ohne bloß auszugleichen oder zu kalmieren.

Die Einzelwerke Cattaneos sind oft durch die Verbindung disparater Materialien gekennzeichnet. High and low, Eisen und Glas (aufwendig von Hand hergestelltes farbiges Muranoglas) bilden in mehreren Einzelwerken der Ausstellung Recursive die materialsprachlichen Gegenpole. Die Verwendung von Glas als skulpturales Material ist dabei weniger seiner Ästhetik und visuellen Anmutung geschuldet, es rührt vielmehr von dessen „Intensität“ her, seiner besonderen räumlichen Dichtheit und Präsenz. Cattaneo sucht die gegensätzlichen Materialien in Beziehung zu setzen und eine Verbindung zu schaffen, welche sich oftmals als geradezu punktuell und fragil erweist. Cattaneo versucht ihre Objekte einerseits einfach zu halten, andererseits dicht und komplex zu gestalten. Trotz oder gerade wegen ihrer Schlichtheit erlangen ihre Objekte eine besondere perzeptive Komplexität und Stringenz. Details sind dabei von großer Wichtigkeit. Berührungen, Verbindungen und Nahtstellen zwischen unterschiedlichen Materialien erhalten eigenständige Bedeutung und Performanz. Bei der Verbindung zweier handgezogener verschiedenfarbiger Glasstäbe verwendet die Künstlerin beispielsweise Zement als Bindemittel, obwohl sicherlich fest und verlässlich, dennoch äußerst fragil und brüchig anmutet. Dünnere Glasstäbe, die eher peripher am Rand der Stirnwand des Ausstellungsraumes lehnen, sind gar nur mit dünnen Klebebandstreifen verbunden.

Trotz ihrer Fragilität wirken die Vertikalen aus unterschiedlich gefärbten Muranoglasstäben wie Markierungen im Raum, wie Zäsuren, die die vermeintliche Leere der Ausstellungsflächen unterbrechen. Die Skulpturen changieren in ihrem Status zudem latent zwischen Bildhaftem und räumlich Manifestem, Gemachtem, Skulpturalem. Aus der Entfernung sehen die Objekte sehr präzise gesetzt und fast geometrisch exakt aus, aus der Nähe weisen sie stets Signaturen des Herstellungsprozesses auf und deuten auf die Hand als wesentliche Verbindung von Raum/ Skulpturalem und Sehen hin. „Certain things come from making“, so Cattaneo. Ästhetische Entscheidungen sind bei Cattaneo folglich selten konzeptueller Natur, sie gehen dem Werk nicht voran, sondern ereignen sich im Tun, im Prozess. Die Hand selbst, also Entscheidungen aufgrund der Handhabung des Materials, spielt im Werden der Werke wie auch allgemein im Denken der Künstlerin eine entscheidende Rolle. Die oftmals halbbewussten und kontingenten Entscheidungen sollen „gefunden“ werden. Diese Entscheidungsfindungen gehen dabei keineswegs einfach vonstatten. Das Finden der richtigen Balance, der stimmigen und doch spannungsreichen Verbindung der gegensätzlichen Materialien, ist vielmehr ein Reduktionsvorgang und auf eine Konzentration der Materialien ausgerichtet, ein Prozess, der gleichsam der skulpturalen Setzung wie der räumlichen-relationalen Komposition Rechnung trägt. Das Werk soll dabei für sich, autonom, aber ebenso im räumlichen interskulpturalen Zusammen-spiel funktionieren. Dieser Doppelstatus, also räumliche Kommunikation zwischen den Arbeiten bei gleichzeitigem autonomen Sein der Einzelwerke, bildet ein wesentliches kinästhetisches und inszenatorisches Merkmal der Arbeit Cattaneos.

In Recursive inszeniert Cattaeno fünf vertikale mittelformatige Arbeiten an den Wänden des Ausstellungsraumes, wobei sich an zwei Stellen Paare aus je zwei Vertikalen zu bilden scheinen. Die Vertikalen bestehen aus je zwei Glasstäben, die, mit Zement verbunden, auf einer Art Eisenprofil an der Wand fixiert sind. Zwei horizontal ausgerichtete Arbeiten weisen hingegen ein markantes Blau als Gemeinsamkeit ikonischer Qualität auf. Jenseits des Evokationsgeschehens der farblichen Codierung des Glases spielt der Boden der Galerie und das dort arrangierte linear-konstruktive räumlich-skulpturale Geschehen eine im wahrsten Sinne tragende, eine das Geschehen erdende Rolle. Am Boden sind mehrere orthogonale, aus Vierkanteisen geschweißte Strukturen plaziert, von denen jede für sich eine Art Raum im Raum andeutet und anreißt, wenn auch nur für einen Moment und unvollständig. Einige Eisenstreben, manchmal zu losen Paaren gruppiert, konterkarieren die rasterartige Raumevokation und lassen das Vierkanteisen als Material wieder zur skulpturalen Markierung im Raum werden.

Während das konstruktiv-dekonstruktive Geschehen am Boden mehr einer dezidiert abstrakten Raumidee, der euklidisch Vorstellung von Raum als homogene Ausdehnung, zugewandt scheint, sind die Wandarbeiten individueller und anthropomorpher geformt und scheinen ganz auf das Hier und Jetzt der Wahrnehmung ausgerichtet. Auch hier bedient sich Cattaneo wiederum eines Gegensatzes. Denn das Aushandeln der Beziehungen, der unterschiedlichen Verhältnisse und Dynamiken von Horizontal und Vertikal, das sich vorwiegend an der Wand zu ereignen scheint, wäre ohne das gebrochen geometrische Geschehen am Boden undenkbar, weil zu filigran und ephemer. Wand und Boden bleiben hier, obwohl sie sich aufeinander beziehen und sich gegenseitig „lesbar“ machen, unauflösbarer Gegensatz. Der Antagonismus von abstrakter Überzeitlichkeit, verkörpert durch die rasterartige abstrakte Räumlichkeit am Boden, und aktueller sinnlich-skulpturaler Erfahrbarkeit der Wandarbeiten schafft ein perzeptives aber auch raumepistemologisches Spannungsfeld, das den Betrachter als Raumbildner herauszufordern und zu aktivieren sucht.

Cattaneo arbeitet mit Materialien, die selbst auf gewisse Weise Zeit verdichten. Ob Holz (Wachstum) oder Glas (aufwendige manuelle Herstellung), beide Materialien können schon für sich als temporale Verdichtungen gelesen werden. Es wäre zu kurz gegriffen, bei Cattaneo nur von räumlichem Material und Skulpturalem zu sprechen. Vielmehr konstituiert und artikuliert sich ihr Begriff von Skulptur stets raumzeitlich. Ihre Skulpturen können als Scharniere zwischen Räumlichem und Zeitlichem betrachtet werden, sie machen das grundsätzlich reziproke Verhältnis von Raum und Zeit als Grundbedingung unserer Wahrnehmung erfahrbar. Hierin bergen die Arbeiten Cattaneos eine zutiefst philosophische Dimension, sie lassen sich nicht auf bloß Formales, Kompositorisches, Gestalterisches reduzieren. Cattaneo arbeitet vielmehr an der Idee von Raum und Zeit selbst, und dies mit radikal einfachen räumlichen und prozessualen Mitteln.

Cattaenos Idee von Skulptur und Raum lässt sich von der zeitlich-prozessualen und perzeptiven Dimension nicht trennen. Die Arbeiten wollen nicht einfach betrachtet und klassifiziert werden – so stünden sie, jede für sich, bloß nebeneinander und würden im besten Falle nacheinander rezipiert. Cattaenos skulpturale „Protagonisten“ wollen vielmehr in Beziehung gesetzt werden, also auch miteinander verglichen und in ihrer Unterschiedlichkeit wahrgenommen werden. In diesem Geschehen aus Verschiebungs- und Rekursionseindrücken, Analogiebildung und Differenzierung entfaltet sich eine immaterielle und situative Raumskulptur. Paradoxerweise spielt räumliche Leere hierbei eine ebenso aktive und formgebende Rolle wie tatsächliche materielle Artikulationen und Setzungen. Die Künstlerin arbeitet intensiv an der richtigen Balance und Dynamik zwischen den Arbeiten, wobei die Choreo-grafie der Abstände zwischen den Arbeiten nicht stilistischen Prämissen folgt, sondern der Provokation von Aufmerksamkeit, einer Art Bündelung und Verdichtung von Wahrnehmung an einzelnen „Punkten“ im Raum dient. Diese Momente gesteigerter Wahrnehmung fallen mit den Positionen der Einzelwerke zusammen oder anders formuliert, sie entfalten sich an ihnen, sodass sie als Akkumulation und Kulmination sinnlicher Wahrnehmung und nicht bloß als schlichte Präsenz erfahrbar werden.

Cattaneos Arbeiten muten oftmals fragmentarisch an, entwickeln aber entgegen ihrer vordergründigen Leichtigkeit und Brüchigkeit eine räumliche Wirkung, die sich nicht über Größe oder Kraft artikuliert, sondern über ästhetische Bündelung, Verdichtung und Konzentration. Die räumliche Leere, mit der sie bewusst arbeitet, wird mithilfe der eigentlich kleinen und filigranen Markierungen (Glasstabgefüge) – ganz entgegen der Idee von Raum als abstrakte Ausdehnung – in Reinform erfahrbar. Der Betrachter wird subtil darauf hingewiesen, dass er selbst diese perzeptiven Verdichtungen schafft, dass er es ist, der den Arbeiten im Wahrnehmen zu Dichte und Präsenz verhilft. Nicht die Arbeiten schaffen hier den Raum, sondern der Vollzug der Wahrnehmung. Die perzeptive Aktualität der Arbeit im Wahrnehmen schafft jene Verbindlichkeit und skulpturale Intensität, auf die Cattaneo abzielt.

Während Cattaeno in früheren Arbeiten noch Raum zu unterwandern suchte, ihn subvertierte, ist dieses Interesse in den letzten Jahren einer Idee von „stabilem Raum“ gewichen. Ihr geht es darum, im Raum zu sein, zu verbleiben, ihn sich zu erschließen und nicht zu dekonstruieren. Cattaneo begreift ihre Arbeiten durchaus als hermetisch, als selbstreferentiell, aber nur insofern, als sie eigene Formen als Bezugspunkte für andere Arbeiten heranzieht. Sie interessiert sie sich nicht für Wiederholung per se, fürs Systemische oder gar für Autopoiesis, sondern für den Bruch im System, die Markierung, für räumliche Bündelung und Setzung. Die einzelnen Arbeiten fungieren nicht als Fragmente oder Teile eines Gefüges oder Systems, sondern als eigenständige Entitäten, die, jeweils für sich, ihr eigenes Hier und Jetzt einfordern, zugleich aber ob ihrer ästhetischen Offenheit und skulpturalen Polysemie eine Art Dialog mit den anderen im Raum konstellierten Skulpturen provozieren. Der Betrachter bewegt sich zwischen den Arbeiten entlang einer Art unsichtbarem Pfad, der ihm eine Hin- und Her-bewegung, ein Vor und Zurück erlaubt. Es kommt zu Vergleichen, aber auch zu Rückgriffen (Rekursionen), die selbst wiederum ins Wahrnehmungsgeschehen hineinspielen. Eindrücke aktueller Wahrnehmung und Erinnertes (mentale Bilder des zuvor Gesehenen) werden dabei nicht nur verglichen und miteinander in Beziehung gesetzt, sondern gehen unmerklich ineinander über. In diesem interskulpturalen Differenzgeschehen wird nicht Räumliches dekonstruiert, wohl aber ein linearer Begriff von Zeit und Wahrnehmung unterwandert.

Cattaneo versucht in ihren Arbeiten dem leeren Raum Sinn abzuringen, Getrenntes zu verbinden, also Beziehung herzustellen. So sucht sie nach den Verbindungspunkten und -stellen zwischen unterschiedlichen einander berührenden Materialien, aber auch nach avisuellen, sich also kognitiv ereignenden Verbindungen zwischen Arbeiten über die Leerstellen und Zwischenräume hinweg. Insofern bergen Cattaneos Arbeiten eine den Raum – wie auch den Leerraum und die Absenz – transzendierende Qualität, ohne dabei in Dekonstruktion zu münden. Leere wie Fülle, Manifestes wie Ephemeres, Stabiles wie auch Brüchiges bleiben mit ihren Qualitäten und Seins-modalitäten präsent. Cattaeno stellt diese unterschiedlichen kontradiktorischen Merkmale zur Disposition, macht sie als eigenständige Qualitäten sichtbar und erfahrbar, verleitet aber auch dazu, auf abstrakter Ebene über diese Kategorien und ihre Inkommensurabilität nachzudenken. Insofern schaffen ihre Arbeiten nicht einfach Assoziationen von Landschaftlichem oder Natürlichem, sondern figurieren kognitive Räume, kognitive Landschaften. Cattaneos skulpturale Gefüge verdichten sich zu einer Raumskulptur, die selbst einen hochgradig ephemeren und immateriellen Status aufweist. Die Raumskulptur in Recursive ist vielleicht als Denkraum beschreibbar, als „space of thinking and of thought“, wie Cattaneo es formuliert, ein Denkraum, der nicht bloß ein Denken im Abstrakten meint, sondern auf Sinnlich-Perzeptivem und der ästhetisch intentionalen Erfahrung von Raum und Zeit fußt und mit ihr verbunden bleibt.

David Komary