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Jennifer Allora (geb. 1974 in Philadelphia) und Guillermo Calzadilla (geb. 1971 in Havanna, Kuba) arbeiten seit 1995 zusammen. 2005 waren sie mit "Hope Hippo" auf der Biennale in Venedig vertreten: Auf einem aus dem Schlamm des Canal Grande gefertigten Nilpferd saß eine Person und las Zeitung. Jedes Mal, wenn dieser sichtlich entspannte Zeitungsleser bei seiner Lektüre von einer Ungerechtigkeit erfuhr, gab er oder sie einen Pfeifton von sich und wurde so zum "Whistleblower", der den oder die Übeltäter buchstäblich verpfeift. Diese Verknüpfung von skulpturähnlichen Elementen und Performance mit Lauten oder Musik ist für Allora & Calzadilla charakteristisch. Ihrer neuen, eigens für das Haus der Kunst konzipierten Arbeit liegt nicht nur ein politisch, sondern auch militärisch gefärbter Ton zugrunde.

"Stop, Repair, Prepare: Variationen zu 'Ode an die Freude' für ein präpariertes Klavier" ist ein skulpturähnliches Objekt, das ausschließlich im Rahmen von Performances existiert. Der berühmte Schlusschor aus dem 4. Satz von Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie zählt zu den bekanntesten Werken des westlichen Klassikrepertoires und kommt rund um die Welt zur Aufführung. Beethovens musikalische Umsetzung einer universalen Verbrüderung, "eine Ikone humanistischer Plattitüden" (Allora & Calzadilla), wurde 1985 zur offiziellen Hymne der Europäischen Union gewählt. Sie stand auch bei den Nationalsozialisten in hohem Ansehen; 1942 wurde sie zu Hitlers Geburtstag gespielt. Das Interesse von Allora & Calzadilla richtet sich auf die inneren Widersprüche der Komposition, auf die Instrumentalisierung des Werkes für gesellschaftliche, politische und kulturelle Zwecke und auf den Gebrauch und Missbrauch von Musik allgemein. Deshalb haben sie für die Aufführung ihrer Arbeit die Mittelhalle im Haus der Kunst gewählt, in der Hitler seine Reden zur Kunst- und Kulturpolitik gehalten hat.

Der letzte Satz von Beethovens 9. Sinfonie interessiert die Künstler wegen seiner orientalischen Ursprünge: Im mittleren Teil bricht unerwartet die Melodie einer "Marcia Alla Turca" hervor - eine beharrliche rhythmische Kadenz, die wie der Taktschlag zum Marsch von Soldaten klingt: links rechts, links rechts. Das lebhafte Tempo und die ungewöhnliche Instrumentierung (Basstrommel, Triangel, Becken) folgt dem "türkischen Stil", der damals bei Komponisten in Mode war; sie ließen sich von marschierenden Janitscharen-Militärkapellen des Ottomanischen Reichs inspirieren, die gegen europäische Armeen in den Krieg zogen. Um die Wende zum 19. Jahrhundert war "türkische" Musik so beliebt, dass Klavierhersteller Klaviere mit einem "türkischen Register" anfertigten, auch Militärregister oder Janitscharenregister genannt. Der Musiker trat ein Pedal, das eine Glocke erklingen und/oder einen gepolsterten Hammer in Nachahmung einer Basstrommel gegen den Resonanzkörper schlagen ließ.

Allora & Calzadillas Arbeit "Stop, Repair, Prepare" beschäftigt sich mit der musikalischen Tradition, für ein präpariertes Klavier zu komponieren. Um ein Klavier zu präparieren, werden üblicherweise verschiedene Gegenstände zwischen oder auf den Saiten bzw. auf Hämmern und/oder Dämpfern befestigt, so dass sich der Klang verändert. Für Allora & Calzadillas skulpturhafte Version eines präparierten Klaviers wurde ein Loch in die Mitte eines Flügels gesägt - der Pianist spielt das Instrument von innen, im Flügel stehend. Während er/sie sich im Marschschritt fortbewegt und dabei den Flügel durch die Mittelhalle schiebt, entstehen Variationen zur 'Ode an die Freude'. Die Performance macht die berühmte Melodie also im wahrsten Sinne des Wortes mobil. Die monströse Klangreise hat ihren Ausgangspunkt beim Beginn der Moderne und zielt in Richtung der ungewissen Horizonte, wo das aus Klang und Text geformte Emblem europäischer Brüderschaft angesiedelt ist; wobei der Status, den die Türkei innerhalb dieser Brüderschaft hat, nach wie vor ungewiss ist.

Slavoj Žižek hat vor kurzem auf die aktuellen politischen Implikationen hingewiesen: Das von Beethoven vertonte Schiller-Gedicht ende nach der Aufforderung zur Umarmung ("Seid umschlungen, Millionen") "auf rätselhafte Weise mit den Worten: 'Und wer's nie gekonnt, der stehle / Weinend sich aus diesem Bund'. Oder um den Finger auf die Wunde zu legen: Sollte man die Türkei in die Europäische Union aufnehmen, oder sollte sie sich weinend aus dem Bund stehlen müssen? Kann Europa den türkischen Marsch, falls es denn dazu kommt, überleben?" (am 3.1.2008 in Die ZEIT).

Vom 13. Juni bis 13. Juli 2008 werden im Kunstverein München die Arbeiten "Clamor", "Sediments Sentiments (Figures of Speech)" und "Wake Up" gezeigt - ebenfalls mit durchgehenden Performances; sie waren bisher nie in einer Ausstellung vereint. Der erste Auftritt, den das Künstlerduo in Deutschland hat, besteht also gleich aus einem Quartett von Arbeiten und kommt dem Wunsch der Künstler nach einer performativen Präsentation bisher am nächsten.

Allora & Calzadilla sind derzeit Stipendiaten des DAAD in Berlin. Zu ihrer Teilnahme an Gruppenausstellungen wie "Common Wealth" (Tate Modern, 2003) oder der Istanbul Biennale 2007 kamen im letzten Jahr Einzelausstellungen in der Serpentine Gallery in London, der Kunsthalle Zürich und dem San Francisco Art Institute hinzu.

Pressegespräch mit Live Performance der Arbeiten "Clamor", "Sediments Sentiments (Figures of Speech)" und "Wake Up" am Donnerstag, 12. Juni 2008 um 15.30 Uhr im Kunstverein München Generalprobe von "Stop, Repair, Prepare" am Donnerstag, 12. Juni 2008 um 17 Uhr im Haus der Kunst Erste Aufführung von "Stop, Repair, Prepare" am Freitag, 13. Juni um 19 Uhr im Haus der Kunst

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Allora & Calzadilla
Stop, Repair, Prepare: Variationen zu 'Ode an die Freude' für ein präpariertes Klavier