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Eröffnung Dienstag, 7. Oktober um 19 Uhr in Gegenwart des Künstlers

"Stellen Sie sich eine formale Visualisierung von Poesie vor, als Indiz in einem zukünftigen Kriegsverbrechertribunal. Stellen Sie sich zwanzig Blätter Papier vor, die auf ewig im Wind treiben." (Amar Kanwar)

"The Torn First Pages" (Die herausgerissenen ersten Seiten) ist eine 20-teilige Videoinstallation des indischen Künstlers und Filmemachers Amar Kanwar. 2003 begonnen und jüngst abgeschlossen, ist dieser Filmessay, der im Auftrag von Thyssen-Bornemisza Art Contemporary entstanden ist, im Haus der Kunst zum ersten Mal vollständig zu sehen.

"The Torn First Pages" ist dem demokratischen Widerstand in Birma gewidmet und inspiriert von der Geschichte des Buchhändlers Ko Than Htay, der inhaftiert wurde, weil er vor dem Verkauf seiner Bücher die Deckblätter herausriss, die mit Propagandaparolen des birmanischen Militärregimes bedruckt waren. Die zwanzig Filme befassen sich auf direkte, elliptische und metaphorische Weise mit zeitgemäßen Formen eines gewaltlosen Widerstands im Kampf um eine demokratische Gesellschaftsordnung, mit politischem Exil, Erinnerung und Entfremdung.

"The Torn First Pages" begleitet den Betrachter auf eine Reise, die vom Ringen, Leben und gewaltsamen Sterben birmanischer Widerstandskämpfer erzählt. Amar Kanwar verbindet eine poetische Expressivität in Bild und Sprache mit der Erforschung von Gewalt in ihren vielfältigen Ausformungen und ihrem Vermögen, in intimste Sphären und private Räume einzudringen. Mit forschendem Blick birgt Amar Kanwar die vergessenen und verlorenen Bilder der Opfer der '88 Protestbewegung Thet Win Aung und Ma Win Maw Oo, reanimiert ihre Geschichten und setzt Prozesse der Erinnerung in Gang. Das Bild behält dabei seine doppelte Lesbarkeit, einerseits als poetisches Zeichen, anderseits als Indiz und Beweismaterial für die moralischen und physischen Verbrechen, die tagtäglich im Auftrag der Militärjunta verübt werden.

Das Video "Ma Win Maw Oo" kreist um eine vergessene, aber hoch dramatische Fotografie einer Schülerin, die während der Studentenproteste von 1988 von birmanischen Soldaten erschossen wurde. Die Aufnahme zeigt den Moment, in dem Win Maw Oo unmittelbar nach ihrem gewaltsamen Tod von zwei Medizinstudenten fortgetragen wird. Einen Tag lang sorgte das Foto in der Presse weltweit für Aufsehen, dann verschwand es aus der allgemeinen Erinnerung. Amar Kanwar greift dieses Bild auf, versetzt es in Bewegung, verwischt es, ja deformiert es sogar - und holt auf ebenso magische wie unheimliche Weise einen Augenblick der Geschichte zurück in unsere Erinnerung: ein persönliches Schicksal, das stellvertretend für ein kollektives Trauma steht.

Für "The Face", einer weiteren Episode in "The Torn First Pages", präsentiert und manipuliert Amar Kanwar ein Bild von General Than Shwe, dem Oberbefehlshaber der birmanischen Militärdiktatur, beim Besuch des Ghandi-Memorials in Delhi am 25. Oktober 2004. Die auf geheim gefilmtem Material basierende Aufnahme zeigt Than Shwe wie er, in einer eigens für die Pressefotografen inszenierten Zeremonie, den Raj Ghat mit Rosenblättern bestreut. Amar Kanwar fokussiert die Gesichtszüge des kamerascheuen Generals und enthüllt so buchstäblich das Gesicht (The Face) militärischer Repräsentation. Die manische filmische Wiederholung der Gebärde des Generals vor den Augen der Presse entblößt das aberwitzige Geschehen in seiner Absurdität.

"The Torn First Pages" verfolgt auch die Spuren des birmanischen Aktivismus ins Exil - nach Oslo, Neu Delhi und Fort Wayne (USA). Der zweite Teil erzählt von der Diaspora in Fort Wayne und einer gemeinsam mit einem birmanischen Aktivisten in den USA unternommenen Suche nach dem inzwischen verstorbenen namhaften birmanischen Dichter Tin Moe, um ihn beim Rezitieren eines seiner berühmtesten Haikus aufzunehmen, das auf den Wänden von Gefängniszellen in Birma gefunden wurden. Der dritte Teil sichtet altes und neues Archivmaterial, das von Mitgliedern des Widerstands anonym und geheim in Birma aufgenommen wurde. Das seltene Material entstammt der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, behandelt aber auch den politischen Aufstand von 8/8/88 sowie die jüngste Rebellion der birmanischen Mönche.

Amar Kanwar, geboren 1964 in Neu Delhi, lebt und arbeitet ebendort. Einzelausstellungen u.a. in der Whitechapel Art Gallery, London, der Apeejay Media Gallery, New Delhi (2007), im Nationalmuseum Oslo (2006) und in der Renaissance Society in Chicago (2004). Er nahm an zahlreichen Gruppenausstellungen teil, darunter Documenta 11 (2003) und 12 (2007) in Kassel, Sydney Biennial 2006, Image War: Contesting Images Of Political Conflict, ISP Exhibition, Whitney Museum, New York, und Territories, Kunst-Werke Berlin KW Institute of Contemporary Art, Berlin (2004).

"The Torn First Pages" wird ab dem 19. November 2008 von Thyssen-Bornemisza Art Contemporary in Wien gezeigt. Die Stiftung wurde 2002 durch Francesca von Habsburg gegründet und hat sich der Aufgabe verschrieben, die Produktion und Vermittlung von ungewöhnlichen zeitgenössischen Kunstwerken zu unterstützen, die sich der herkömmlichen Kategorisierung entziehen.

Vom 5. bis 30. September 2008 sind sechs Filme aus dem ersten Teil von "The Torn First Pages" in der Docking Station des Stedelijk Museum CS zu sehen.

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Amar Kanwar
The Torn First Pages

Stationen
05.09.08 - 30.09.08 Stedelijk Museum, Amsterdam
08.10.08 - 09.11.08 Haus der Kunst, München